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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Steimle
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Transportpolizei in die Hände zu fallen. Noch heute höre ich den aggressiven, totalitären Schaffnerpfiff, wenn es hieß: »Abfahrt!« Und mein Vati war noch immer nicht im Zug.
    Nein, nein, ich bilde mir das nicht ein: 1972 wurde ganz anders gepfiffen. Ich will mal sagen: entschiedener, unmissverständlicher, ja, ein entschlussfassenhelfender Einstiegsschubpfif  – kurz: diktatorisch. Ein Pfiff war ein Pfiff und
duldete keinen Aufschub. Gut, der Zug stand zwar eine Dreiviertelstunde, aber bei los ging’s los.
    Nicht wie heute: »Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf Grund von internen Betriebsabläufen verzögert sich die Abfahrt des InterCity-Express »Johann Sebastian Bach« voraussichtlich um 25 Minuten. Ich korrigiere um 125 Minuten.«
    Da ist die halbe Wartezeit schon um. »Wir bitten um Ihr Verständnis.« Nein, nein, nein, ich habe kein Verständnis! Lotterladen! Penner! Mein Druck steigt im Kessel. Das deutsche Wort müsste auch heißen: »Wir bitten um Entschuldigung.« Nicht um Verständnis! Abfahrt!
    Zurück in 1972: Da lebte man ruhiger, viel ruhiger, trotz Aufregung.
    Und meine Aufregung im D 912 war wirklich groß, denn, wie gesagt, mein Vati war noch nicht auf seinem Platz, und der Zug fuhr an. Die junge Frau, die mir gegenüber saß und meinen Kloß im Hals bemerkte, meinte teilnahmsvoll, als mir das Wasser in die Augen stieg: »Dein Vati ist wohl noch gar nicht zurück oder fährst du allein weiter?« Gerade als ich laut los – (nicht lautlos) … als ich also laut losweinen wollte, aus Frust um Fips und Vati und allein fahren müssen in der Reichsbahn, ging die Abteiltür auf, und mein Vati stand freudestrahlend vor mir – mit zwei Bockwürsten und zwei Apfelfips. Ich liebte ihn umso mehr in diesem Moment, weil er kämpfend gesiegt hatte gegen alle Widrigkeiten, die da hießen: Schlangestehen, Hitzekollaps, Zeitdruck, Durchkämpfen. Ja – mein Vati war ein Kämpfer! Auch im Urlaub! Ein Soldat auf Wacht für den Frieden, in diesem Moment für meinen Frieden. Das Wort »Dasein« habe ich schon damals ganz warm empfunden.
    Die Einfahrt in den Brandleitetunnel, gefühlte 42 km marathonlang, war der Höhepunkt des Urlaubsauftakts in der Anfahrt auf Suhl. »Zähl die Lampen im Tunnel, und Fenster
zu, sonst ersticken wir vom Kohlendreck der Dampflok und kommen schon tot an im Urlaub«, sagte mein Vati. Und ich? Ich war der glücklichste Junge der Deutschen Demokratischen Republik.
    Tja, und dann standen schon meine Großeltern auf dem Bahnsteig in Suhl. Mein Opa Otto und meine Oma Käthe waren extra schon eine halbe Stunde früher zum Bahnhof geeilt.
    »Man weiß ja nie«, sagte Opa, »was, wenn die Reichsbahn pünktlich kommt?!« So erfuhr ich, was es bedeutete: »der Zug kam pünktlich.« . . . 14:10 Uhr, planmäßig, und soll ich Ihnen was sagen? Meistens kam er wirklich auf die Minute nach immerhin neun Stunden Fahrt. Das muss man erst mal schaffen! Und einmal war er sogar fünf Minuten eher da. Das war 1973, werde ich nie vergessen. Bitte, prüfen Sie nach in den Ankunftsprotokollakten des D 913. Richtig? Falsch! D 912! Sie haben aufmerksam gelesen und lassen sich nichts vormachen. Weder in der Ankunft noch planmäßig.
    Es war Hochsommer in Suhl, und ich trug Lederhosen, Kniestrümpfe, bei der Ankunft schon runtergerollert, und Sandalen sowie mein Silastik-Nicki, das aber nun schon leicht müffelte, um nicht zu sagen, bestialisch stank. »Wie Iltis!«, bemerkte mein Großvater trocken. »Karl Heinz, der Junge kommt ja um«, rüffelte Oma Vati, also ihren Jungen, und vertröstete seinen Jungen, also mich, auf Waldmeisterlimo in der Judithstraße. »Hattest Du keinen Waschfleck mit für unter die Arme oder hat deine Mutter daran nicht gedacht?«, schoss jetzt auch Opa scharf. Na, das war ja eine Begrüßung! »Doch, doch. Der Waschfleck steckt noch in der Zellophantüte im Campingbeutel.« Ich hatte ihn vergessen. »Ach so, na, da kommt erst mal, und heute Abend gibt es Bratwürste, echte Thüringer. Winfried, also dein Onkel, hat sie schon in Bier eingelegt, und Tante Renate bäckt schon deinen Rührkuchen, nu kommt.«
    »Und du, Junge«, gemeint war wieder ich, »achtest, wenn wir dann nach Hause kommen, auf die Schwellen.« »Auf die Schwellen?« »Na, nicht, dass du wieder als Erstes auf die Schwelle trittst. Schön drübersteigen, großer Schritt über die Schwelle.« »Ja, Opa, ich denke dran.« »Und warum darf man nicht auf die Schwelle treten?«, wunderte ich mich und wandte

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