Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)
Kniestrümpfe hoch, rückte meine Lederhose zurecht, weil die kniff immer so. Und ich staunte und staunte und erschrak erst einmal, denn vor der Hofkirche stand ein Löwe. »Brauchst keine Angst haben, der ist aus Sandstein und tut dir nichts, der hat heute schon gefressen.«
Als ich ein kleiner Junge war, da gab es Kuchenränder. Für einen Groschen die Tüte. Und im Grünen Gewölbe gab es einen Kirschkern mit über hundert Köpfen drauf. Genauso einen Kirschkern, wie ich gerade ausgespuckt hatte, hatte einer verschnitzt. Ja, so etwas gab es nur bei uns in Dresden. Dass den Kirschkern im Grünen Gewölbe einer schon vor 400 Jahren ausgespuckt hatte, konnte ich damals nicht wissen. Für Kinder gibt es keine Zeit. Das ist eine Erfindung der Erwachsenen, die sich komischerweise immer dann an »ihre« Zeit erinnern, wenn das Leben fast vorbei ist.
So, und nun geht’s rein ins Grüne Gewölbe. Och nee, die Massen!
Das Grüne Gewölbe August des Starken ist so emotional entstanden wie keine zweite barocke Schatzkammer Europas, ja vielleicht sogar der ganzen Welt.
Was sind die Uffizien in Florenz gegen das Grüne Gewölbe zu Dresden?! Auch genannt »Elbflorenz«. Aber das passt für mich nicht, denn in Florenz florierte die Renaissance, in Dresden blühte der Barock. Hoch!-Barock.
Dresden erlebt jetzt gerade seine Renaissance, die Renaissance des Barock. Wir wollen uns ja mit niemandem streiten, schon gar nicht mit den Uffizien, aber diese unmittelbare, persönliche, leidenschaftliche Beziehung zu Dresden haben nun mal nur wir Dresdener. Ein jeder hier hatte mindestens einen in der Familie, der königlich-sächsischer Hoflieferant war. Oder er kannte einen, der es werden wollte. Und glauben Sie es, oder glauben Sie es mir nicht: Wir alle sind Augusts Kinder.
Gewollt oder ungewollt.
Und wenn morgen wieder die Monarchie zur Wahl stünde, ich wüsste schon, wo meine Dresdener ihr Kreuz hinmachen würden.
So wirkt unser August der Starke durch seine Sammelleidenschaft auch noch nach Jahrhunderten in uns nach. Denn wir sind Teil des Ganzen. Jawohl!
Kollektivbewusstsein aus Barock, das ist Teamgeist für die Ewigkeit. Darunter machen wir es nicht. Ne, ne, ne, ne!
Dass aber leidenschaftliches Sammeln auch Leiden schafft, das erzählen hier die Vasen.
Der preußische König liebte Soldaten, August Vasen aus Chinesischem Porzellan.
Also wurde getauscht: Soldaten gegen Vasen, und beide Seiten waren es zufrieden. Von den Soldaten weiß man nichts
mehr. Die Vasen aber haben überlebt. Manchmal hat Sachsen eben auch Glück gehabt, zum Beispiel, was das Porzellan betrifft.
Das »Goldene Kaffeezeug« August des Starken ist Johann Melchior Dinglingers erstes Meisterwerk für das Grüne Gewölbe.
Das ist nicht Porzellan, welches Böttcher erst acht Jahre nach Dinglingers Tod erfand, sondern Emaille. Aber der Dinglinger nahm mit seinem blau-weiß bemalten Trinkzeug quasi das Porzellan vorweg. Er schuf, wonach August sich sehnte: Feste Zerbrechlichkeit, leichte Stabilität. Doch der Reihe nach und eins nach dem anderen:
Für August musste am 23. Dezember 1701 schon Weihnachten gewesen sein.
Ich bitte Sie: Wer braucht ein Kaffeegeschirr, das keiner gebrauchen kann? Richtig! Nur ein König.
August wurde König. Zwar selber eingekauft, aber immerhin. Und wir wollen nicht ganz vergessen: Unseren Zwinger hat weitestgehend der polnische Adel bezahlen müssen. Danke! Auch dafür. Manchmal stelle ich mir vor, wie der arme Melchior Dinglinger im Winter nach Warschau reisen musste, bepackt mit seinem Kaffeegeschirr – die Zeiten waren damals sehr unsicher, und kalt war es außerdem – nur, um seinem König das gepriesene goldene Kaffeegeschirr zu zeigen. August hat es dann 1701 erworben. Bezahlt wurde es 1711.
Der Kaufpreis: 50 000 Dollar – ich meine Taler, sächsisch »Doaler«. Klingt ähnlich. Der Dollar kommt ja auch aus Sachsen. Der Name »Taler« stand Modell für den Dollar. Was kommt eigentlich nicht aus Sachsen?
Sogar die Konsumtionsakzise kommt von uns. Und wie sagen wir heute dazu? … Mehrwertsteuer!
Der Genuss von Kaffee galt Anfang des 17. Jahrhunderts am Sächsischen Hofe als exotischer Luxus. 1672 wurde eine
»indianische Art« Bohnenkaffee als Probe für die Kunstkammer geordert und vermutlich auch gleich dort geschlürft. Na, wer weiß, was das für eine Lorke war. »Lorke« ist sächsisch und etwas stärker als Plärre. »Plärre« ist auch sächsisch, aber ungenießbar.
Das feine Wort
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