Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
übersehen.«
»Hat es dir denn auch geschmeckt?«
»Danke, das Essen war gar nicht schlecht.«
Seine Hand krabbelte über den Tisch und umschloss meine Rechte.
»Paula«, schon wieder dieser Blick, »ich weiß fast nichts über dich. Erzähl mir von dir. Von deinem Leben.«
Ich blies verlegen die Backen auf. Was sollte ich schon erzählen? Mein Leben war absolut belanglos, um nicht zu sagen, erschütternd ereignisfrei.
»Ich bin Anwältin«, sagte ich deshalb.
Artjom grinste amüsiert. »Das kann doch nicht alles sein. Was machst du in deiner Freizeit? Hast du einen Mann, einen Freund, was ist mit deiner Familie?«
In meiner Freizeit starrte ich an die Decke und kämpfte gegen eine Armutsneurose; den Mann hatte ich verabschiedet und erschrak manchmal darüber, wie wenig Substanzielles von der gemeinsamen Zeit übrig geblieben war; meine Familie bestand hauptsächlich aus Mutter und Vater, die in ihrer Villa an der Elbe saßen und sich grämten, dass aus ihrem einzigen Kind nichts wurde.
Das waren nicht die Details, mit denen man sich beim ersten Rendezvous als interessante, begehrenswerte und geheimnisvolle Frau präsentieren konnte.
Ich holte tief Luft. Artjom hielt immer noch meine Hand, seine angenehm warm und rauh, meine feucht und heiß. Und dann erzählte ich doch alles. Von meiner Kindheit, in der ich früh lernte, zu funktionieren und dass meine Meinung nicht zählte. Von meinem Traum, einmal Menschen zu helfen und Gutes zu tun. Von meinem Vater, dem Richter, der fand, eine Matthes sei zu Höherem berufen, und auf dessen erbarmungsloses Drängen hin ich Jura studiert hatte.
Von Bernhard, den ich während des Studiums kennenlernte und in dessen Arme ich mich aus meinem restriktiven Elternhaus flüchtete. Mit dem ich nach dem Referendariat eine Kanzlei gründete, eine zweck- und standesgemäße Verbindung einging und der mich stets spüren ließ, dass er der große Macher war.
Ich erzählte von seinem Betrug, der Trennung und von meinem Versuch, es nicht mehr allen recht machen zu wollen. Von meinen Existenzängsten und meiner Einsamkeit.
Artjom, der mir aufmerksam zugehört hatte, ergriff meine zweite Hand. Tränen lösten sich aus seinen Augen, flossen seine Nase hinab und tropften in sein Glas.
»Ach, Paula!«, brach es aus ihm heraus – so laut, dass man von den anderen Tischen interessiert zu uns herüberblickte. »Ich verstehe dich so gut. Dieses Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein. Die Einsamkeit. Das kenne ich.« Nun schüttelte es ihn geradezu, ergriffen nahm er seine Serviette und trompetete hinein. Alle Gespräche um uns herum waren verstummt.
Nun ja, dachte ich, so schlimm ist es auch wieder nicht. Wir haben nicht vom Völkermord an den Armeniern gesprochen, nur von meinem bescheidenen Leben. Kein Grund zum Weinen – jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit.
Nach dem Genuss zweier Brandys hatte er sich so weit gefasst, dass er die Rechnung begleichen konnte. Auch wenn es unsensibel war, hatte ich, um keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen, darauf verzichtet zu fragen, wo genau nun die Parallelen zu seinem Leben lagen, und ihm stattdessen auch meine Serviette gereicht. Geräuschvoll putzte er ein letztes Mal seine Nase und sagte entschlossen: »Jetzt wollen wir uns aber ein bisschen amüsieren!«
Nach der Verköstigung in dem brasilianischen »Spezialitäten«-Restaurant war ich gespannt auf die nächste Location. Ein weiteres Taxi brachte uns in die Gegend am Hauptbahnhof und hielt vorm Maritim-Hotel Reichshof.
Will er sich hier etwa ein Zimmer nehmen?, dachte ich erschrocken, meint er das mit »sich ein bisschen amüsieren«?
Ich überlegte schon, wie ich auf so eine Offerte angemessen reagieren sollte, als mich Artjom zielstrebig durch das Foyer in die Hotelbar führte. Erleichtert und gleichzeitig ein wenig enttäuscht folgte ich ihm zum Tresen.
Noch während ich versuchte, mit meinem Kleid möglichst damenhaft einen der taubenblauen Barhocker zu erklimmen, gab mir Artjom mit den Worten: »Ich muss kurz einem Geschäftspartner Hallo sagen. Bin gleich wieder da«, einen Klaps auf den Hintern und entschwand durch eine verspiegelte Schiebetür.
Hupsa, dachte ich, wann hat mir eigentlich das letzte Mal ein Mann auf den Hintern gehauen? Ich musste nicht lange nachdenken: noch nie. Ich war erstaunt, dass es sich nicht ungebührlich anfühlte.
Plötzlich allein gelassen, schwang ich mich auf den Hocker, ruckelte auf der unbequemen Sitzgelegenheit hin und her, zupfte
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