Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
ich erwarte von dir …«
»Artjom ist mir scheißegal!« Vater stand kurz vor der Schnappatmung. »Einer der verdammten Köter hat Eika gedeckt. Sie ist trächtig. Von einem Bastard!«
Er heulte fast. Ich legte schnell auf. Okay, dachte ich, damit hat sich das Thema Familienurlaub wohl endgültig erledigt.
Darya war komplett aus dem Häuschen, als sie von dem unverhofften Familienzuwachs erfuhr.
»Gutt Chundchen«, rief sie, riss Sputnik in die Luft und küsste ihn auf seine feuchtkalte Nase. Ich bezweifelte, dass der arme Kerl wirklich als Übeltäter in Frage kam, rein körperlich schien er mir dazu nicht in der Lage zu sein. Ich hatte eher Wassja im Verdacht, den alten Haudegen.
»Kain Prrobläm fur Papa«, sagte Darya, »ich kummer, nix Arrbait.«
»Das ist lieb von dir. Falls er irgendwann wieder mit mir redet, richte ich es ihm aus. Wie geht’s eigentlich dem Huhn?«
»Ah, Chuhnchen gutt. Chunchen bald färtik.«
Was meinte sie damit? Ich schlenderte unauffällig über den Rasen und schaute im Stall nach dem Rechten. Da hockte mein Huhn träge auf der Stange, in den letzten Wochen hatte es sich quasi verdoppelt. Der Vogel ist adipös, dachte ich und entdeckte in der Ecke einen Getreidesack mit der Aufschrift »Landkornendmast«. Ich begriff.
Ich schnappte mir den Sack, schmiss ihn in meinen Kofferraum und stellte Darya zur Rede. »Willst du das Huhn etwa schlachten?«
Sie legte den Kopf schräg und zählte unschuldig die Wolken am Himmel.
»Darya, das Huhn bleibt am Leben, hörst du? Finger weg von meinem Huhn!«
»Hmmm?«
»Und tu nicht so, als würdest du mich nicht verstehen. Du weißt genau, was ich meine.«
»Mmmh.«
Ich rief Artjom an. »Wusstest du, dass deine Mutter mein Huhn umbringen will?«
»Sie sagte irgendwas von einem Festessen für die ganze Familie, wenn Deduschka da ist.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage! Das ist mein Huhn.«
»Mensch, Paula, was hast du denn auf einmal mit diesem blöden Vogel?«
»Mein Huhn«, beharrte ich, »kommt nicht auf den Tisch. Erklär ihr das!«
Ich reichte Darya mein Handy. Nachdem sie zwanzig Minuten monologisiert hatte, gab sie es mir zurück und stolzierte beleidigt in die Datscha.
»Und? Hat sie’s begriffen?«, fragte ich Artjom.
»Ja, ja. Sie wird deinem Huhn keine Feder krümmen. Ich wusste gar nicht, dass du so an dem Tier hängst …«
»Tu ich aber. Außerdem werden wir alle von nur einem Huhn nicht satt.«
Meine soeben erwachte Liebe zu dem Tier fand ich selbst erklärungsbedürftig. Aber etwas in meinem Inneren sträubte sich vehement dagegen, das mir anvertraute Wesen dem Tod zu übergeben. Immerhin war das Huhn ein Geschenk, und ich hatte Frau Petrowa versprochen, gut darauf aufzupassen.
Ich ging zum Stall zurück und gackerte freundlich. Mein Huhn gackerte höflich zurück. Wenigstens einer, der mich versteht, dachte ich. Dann marschierte ich zur Datscha und erklärte Darya: »Das Huhn heißt übrigens Agathe. Wir essen nichts, was einen Namen hat.«
Deduschkas Ankunft stand unmittelbar bevor. Artjom hatte mir erzählt, dass sein Großvater Alexej schon weit über achtzig war und in der Nähe von Kiew auf dem Land lebte. Aufgewachsen war er in den 1920 er Jahren in Belgorod, nahe der heutigen Grenze zur Ukraine. Alexejs Familie hatte es unter dem Zaren zu einigem Reichtum gebracht, der Vater war ein Geologe von Rang und Namen und leitete den örtlichen Kreideabbau. Schon vor der Oktoberrevolution 1917 wandelte er sich zum glühenden Kommunisten, wohl ahnend, dass die Bolschewiken nach einer Machtergreifung mit Leuten wie ihm nicht lange fackeln würden.
Das taten sie auch nicht. Natürlich wurde er enteignet, entging aber einer Deportation in die unwirtlichen Gegenden seiner Heimat dadurch, dass es weit und breit keinen anderen Geologen gab, der sich so gut mit Kreide auskannte.
Der kleine Alexej, jüngster von drei Söhnen, bekam seinen Vater kaum zu Gesicht, seine Erinnerungen an ihn blieben stets vage: ein schwermütiger, gehetzter Mann, der dem Kind im Vorbeieilen flüchtig über den Kopf strich. Alexej war froh, als er zum Studium ins sowjet-ukrainische Charkow aufbrechen und das düstere Elternhaus verlassen konnte.
Wenigstens ein glückliches Studentenjahr verbrachte er an der medizinischen Fakultät. Glücklich vor allem deshalb, weil er in seiner Kommilitonin Galina Wladimirowna Achmatowa eine Seelenverwandte fand, in die er sich spontan und innig verliebte. Mit dem Beginn des Großen
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