Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
Vaterländischen Krieges wurden sie jäh auseinandergerissen und Alexej zur Verteidigung seiner Heimatstadt abkommandiert.
Schon in den ersten Kriegsmonaten wurde Belgorod von der Wehrmacht besetzt. Alexej schloss sich ukrainischen Partisanen an, die die Stadt 1942 kurzzeitig zurückeroberten. Im Verlauf dieser Gefechte wurde er angeschossen und gefangen genommen.
Er teilte das Schicksal Tausender anderer Bewohner Belgorods, wurde nach Deutschland verschleppt und landete in einem Lager für russische Kriegsgefangene. Das Stammlager VI K lag in einem Ort mit dem irreführend malerischen Namen Schloß Holte-Stukenbrock bei Bielefeld.
Bis zum Ende des Krieges baute er für die Nazis Bahntrassen und schuftete in einer Drahtfabrik. Er ernährte sich von Baumrinde, Gras und Wassersuppe, er überstand Typhus, Fleckfieber und Tuberkulose.
1945 kehrte er als körperliches Wrack in die Heimat zurück und begab sich auf die Suche nach den Überlebenden seiner Familie. Seine älteren Brüder waren an der Front gefallen, die Mutter an gebrochenem Herzen gestorben, allein sein Vater lebte. Aus lauter Kummer hatte er sich mit zunehmendem Fanatismus der Parteiarbeit verschrieben und als Funktionär einen nicht unerheblichen Einfluss erlangt. Das kam Alexej zugute. Denn die Heimkehrer wurden von Stalin nicht etwa als Helden des Vaterlandes empfangen, im Gegenteil, der Georgier schalt sie Verräter. Viele von ihnen wanderten übergangslos aus der Kriegsgefangenschaft in sowjetische Strafbataillone oder gleich in den Gulag.
Unter väterlicher Obhut gelangte Alexej wieder zu Kräften und setzte sein Studium fort. Immerhin: Galina lebte noch, die beiden heirateten, wurden Ärzte, zogen nach Kiew und bekamen zwei Kinder, Rostislav und Jekaterina.
Fortan führten sie ein bescheidenes Leben und machten das, was man so machte: Sie wurschtelten sich durch. Sie lebten mit dem Mangel, sie wurden Meister der Improvisation. Und alles in allem waren sie doch glücklich, weil sie einander hatten.
Fünf Jahre vor dem Zusammenbruch der UdSSR starb Galina. Rostislav und Jekaterina befürchteten das Schlimmste. Die Tochter zog vorübergehend zum Vater, um ihn davon abzuhalten, auch seinem Dasein ein Ende zu setzen.
Denn dass ein Russe seine Frau überlebt, ist eigentlich nicht vorgesehen – als wüsste der liebe Gott, dass der Mann ohne Frau nichts ist und dass der Frau nach einem entbehrungsreichen Leben an der Seite ihres Mannes noch Jahre der Ruhe und des Friedens zustehen.
Doch Alexej kam zurecht. So wie er niemals über die Jahre der Gefangenschaft gesprochen und sie in seinem Inneren begraben hatte, so verschloss er auch die Trauer in sich und wurschtelte weiter. Er beendete seine Laufbahn als Kieferchirurg, zog auf die Datscha und erfreute sich am Gedeihen seines Gemüses.
Atemlos hatte ich Artjoms Geschichtsstunde gelauscht und war voller Ehrfurcht angesichts dieses bewegten Lebens. Verunsichert war ich auch, ob Alexej nicht insgeheim Groll hegte gegen die Deutschen. Mein Mann beruhigte mich.
»Mach dir keine Sorgen, Paula. Deduschka ist ein kluger und gütiger Mann. Er weiß doch, dass du mit den Dingen von damals nichts zu tun hast.«
Ich nicht, aber wie stand es eigentlich mit den Meinen? Gut, mein Opa väterlicherseits war als Offizier im Krieg gestorben, in Polen, soweit ich wusste, da waren wir aus dem Schneider. Aber Mutters Sippe? Wie in vielen deutschen Familien gehörte auch in dieser ihre Rolle im Nationalsozialismus nicht zu den bevorzugten Smalltalk-Themen.
Als ich, ein neugieriger Teenager, aufgewühlt vom Geschichtsunterricht, etwas darüber erfahren wollte, lautete die knappe Antwort, man sei allenfalls Mitläufer gewesen, Teil dieser diffusen, schweigenden Mehrheit, die von nichts, aber auch gar nichts wusste. So, Paula, und was machen die Ballettstunden? Übst du fleißig?
Dabei hatte ich es belassen. Wer wühlt schon gern im eigenen Dreck? Immerhin war ich mir einigermaßen sicher, dass die Pfeffersäcke keine schwerwiegenden Verbrechen begangen hatten, da meine Großeltern mütterlicherseits unmittelbar nach dem Krieg vorzügliche Beziehungen zu den britischen Alliierten unterhielten.
Was mir noch mehr Kopfzerbrechen bereitete als die Vergangenheit, war die gegenwärtige Frage: Wohin mit Deduschka?
Nach Artjoms Okkupation meiner Wohnung boten sich nur wenige Freiräume. Die Couch im Wohnzimmer konnte ich dem alten Mann keinesfalls zumuten. Das fand ich respektlos, außerdem wollte ich nicht morgens in
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