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Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen

Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen

Titel: Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Fröhlich
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rief sie, »kommen Sie schnell!« Ich eilte in ihre Wohnung.
    »Papa?«
    »Warum seid ihr verdammt noch mal nicht zu erreichen? Seit Stunden überall nur die Mailbox!«
    »Was ist denn los?«
    »Alexej ist verschwunden.«
    »Papa, so ein großer Mann verschwindet nicht einfach.«
    »Doch. Aber das ist noch nicht alles. Er ist bis an die Zähne bewaffnet.«
    Viel mehr an Information war aus Vater in diesem Moment nicht herauszubekommen, außer, dass das eine lange Geschichte sei und jetzt wirklich nicht der Zeitpunkt, um in Ruhe darüber zu sprechen.
    »Wir müssen ihn suchen, Paula. Bevor noch etwas passiert …«
    »Wir kommen.«
    Mit Lichtgeschwindigkeit fuhren Artjom und ich nach Vaters Angaben Richtung Schleswig-Holstein, in einen Forst nahe der Grenze zu Hamburg. Mein Navi war auf den Feld- und Waldwegen nicht zu gebrauchen, ziellos irrten wir umher, bis auf einmal Vater aus einem Gebüsch vor unser Auto hüpfte und wild mit den Armen wedelte.
    »Da seid ihr ja endlich! Warum hat das denn so lange gedauert?« Er sprang zu uns in den Wagen – »Da lang, los!« –, und ich preschte, tapfer alle Schlaglöcher ignorierend, weiter. Vater saß im Fond und faselte wirres Zeug.
    »Wenn der mal keine Dummheiten macht …«
    »Mann, Mann, Mann, wer hätte das auch ahnen können?«
    »Mann, Mann, Mann, ich hätte es wissen müssen!«
    »Der macht bestimmt eine Dummheit!«
    Wir holperten durch dichtes Nadelgehölz und hielten auf einer Lichtung, auf der ein imposantes Blockhaus stand. Die Hütte war menschenleer, alles deutete auf einen überstürzten Aufbruch hin, Stühle waren umgekippt, Betten nicht gemacht, auf einem Tisch standen Essensreste und Schnapsgläser.
    »Wo sind denn die anderen?«, fragte ich Vater.
    »Abgereist«, antwortete er knapp.
    »Papa, wärst du so nett, uns zu erklären, was hier los war?«
    Es folgte eine umständliche Schilderung verworrener Ereignisse, deren Ablauf im Nachhinein nicht mehr exakt rekonstruiert werden konnte. Wer wann was gesagt hatte. Wer woran schuld war. Wie die Situation derart eskalieren konnte. Und wer, um Himmels willen, eigentlich auf die Idee gekommen war, diesen verdammten Hippie an den Baum zu fesseln.
    »Ihr habt jemanden an einen Baum gefesselt?«, fragte ich.
    »Der Mistkerl wollte den Hochsitz ansägen.«
    »Papa, bitte der Reihe nach.«
    Vater holte Luft, dann holte er weit aus. Artjom und ich lauschten atemlos der nach wie vor umständlichen Erzählung, erst Tage später, nachdem wir auch die Version des zweiten Hauptbeteiligten gehört hatten, machten wir uns unseren eigenen Reim auf die Geschichte:
    Der Ausflug hatte begonnen wie immer. Die Jagdgesellschaft versammelte sich am Freitagnachmittag in der Blockhütte. Alexej wurde von den übrigen Männern herzlich aufgenommen, stolz zeigte man ihm die Trophäen an der Wand und präsentierte die Gewehre. Langsam dämmerte es Deduschka, wo er gelandet war.
    Wie ich es vermutet hatte, war ihm der Begriff »Damwild« nicht geläufig gewesen. Er wähnte sich auf einem klassischen Männerwochenende: Kumpel, die zusammen in den Wald fahren, in die Banja gehen, Wodka trinken, Geschichten aus der Vergangenheit erzählen und ein wenig herumballern. Das war auch in seiner Heimat kein unübliches geschlechtsspezifisches Freizeitvergnügen.
    Er registrierte erstaunt, dass es gar keine Sauna gab. Und auch keinen Wodka. Wirklich misstrauisch machten ihn die Geweihe, die überall in der Hütte hingen. Er stellte Vater diskrete Fragen über den weiteren Verlauf der folgenden Tage, und dann begriff er.
    Nun war Alexej nicht von zimperlicher Natur, auch er hatte schon Wild erlegt, damals während der großen Hungersnot, er hatte ja keine Wahl. Aber dass es Menschen gab, die aus Jux und Dollerei Gottes Geschöpfe töteten, das war ihm fremd.
    Dennoch machte er eine halbwegs gute Miene zu diesem Spiel. Wer war er denn, dass er die Sitten und Gebräuche seiner Gastgeber in Frage stellen durfte? Offensichtlich handelte es sich hier um eine regionale Tradition, was auch die folkloristische Kleidung der anderen erklärte.
    Am ersten Abend lauschte er interessiert den Gesprächen und erfuhr noch mehr über diese Sitten und Gebräuche. Und er verstand, dass Veranstaltungen dieser Art privilegierten Menschen vorbehalten waren. Menschen, die Geld hatten und sich jederzeit etwas zu essen kaufen konnten.
    Als Alexej wissen wollte, ob denn die Armen sich auch einen Hasen schießen dürften, um ihren Hunger zu stillen, antwortete ihm Vater:

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