Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
»In Deutschland muss niemand Hunger leiden.« Ein anderer ergänzte empört: »Das wäre ja noch schöner, wenn Krethi und Plethi hier durch den Forst trampeln.« Ich vermute, das war der Moment, als sich ein erster, leiser Unwille in Alexej regte.
Die Männer gingen früh ins Bett, schließlich wollte man in aller Herrgottsfrühe aufstehen, um noch vor Sonnenaufgang auf den Hochsitzen zu sein. Alexej war ein wenig enttäuscht, keiner erzählte Geschichten, keiner wollte seinen mitgebrachten Schnaps, das hatte er sich anders vorgestellt. Vater vertröstete ihn auf den nächsten Abend, an dem man sicher die Ausbeute des Tages feiern würde.
Noch vor allen anderen war Alexej wach und wartete abmarschbereit in seinem grünen Trainingsanzug darauf, dass das Abenteuer begann. Jemand drückte ihm ein Gewehr in die Hand – »Du bist ja Russe, du weißt, wie man damit umgeht« –, dann teilten sich die acht Männer in Paare auf, Alexej war Vaters Partner. Der Morgen war kalt, feucht und neblig. Sie erklommen ihren Hochsitz am Rand einer Weide, starrten in die Dunkelheit und warteten darauf, dass etwas geschah.
Es dauerte nicht lange, da staksten die ersten Tiere vorsichtig auf die Wiese. Vater legte an, Alexej bekam einen Hustenanfall, das Wild verschwand, Alexej entschuldigte sich. Erneutes Warten. Doch statt des Damwilds sprang auf einmal eine Gruppe Unbekannter aus dem Wald, bewaffnet mit Rasseln, Trommeln und Pfeifen, und veranstaltete einen Höllenlärm. In der Ferne fielen Schüsse.
»Verfluchte Tierschützer!«, brüllte Vater. »Komm, die schnappen wir uns!«
Er stürmte los, dicht gefolgt von Deduschka, der sich fragte, was das zu bedeuten hatte. War das Teil eines Spiels? Sie rannten durch den Wald, von überall her ertönte Geschrei, es rasselte, es trommelte, es pfiff, junge Männer wetzten durchs Unterholz und versuchten, ihnen zu entkommen.
Sie erwischten keinen. Alexej beteiligte sich nur halbherzig an der Verfolgungsjagd, wahrscheinlich fand er, dass er definitiv nicht mehr in dem Alter war, um Fangen zu spielen. Außer Atem kehrten sie zur Blockhütte zurück. Die anderen warteten schon auf der Lichtung. Sie hatten mehr Erfolg gehabt und Beute gemacht.
Vor ihnen auf dem Boden lag ein verschmutztes Etwas mit langer Rastamähne, man konnte ihn anfänglich nur schwer einem Geschlecht zuordnen, das Etwas stöhnte und blutete aus einer Wunde an der Stirn. Alexej holte sofort seinen Medizinkoffer, ohne den er niemals für längere Zeit das Haus verließ, und untersuchte den armen Menschen.
Der Rest beriet derweil, was mit dem Tunichtgut zu geschehen habe. Ein Jäger plädierte für standrechtliches Erschießen – »Notwehr. Das ist nur Notwehr. Die Drecksau wollte den Hochsitz ansägen.« –, einige waren für Verprügeln, andere wiederum wollten den Übeltäter der Polizei übergeben.
Man fand aber, dass es draußen zu kalt für eine abschließende Erörterung sei, band das Etwas an einen Baum und setzte die Diskussion in der Hütte fort. Vater war als Richter a.D. um Deeskalation bemüht und machte seine Kameraden darauf aufmerksam, dass nicht nur der Bursche da draußen eine Straftat begangen habe, sondern sie sich selbst wahrscheinlich schon der Körperverletzung und der Freiheitsberaubung schuldig gemacht hätten.
»Lassen wir ihn noch ein wenig schmoren und dann laufen«, schlug er vor. Der glühende Anhänger der Selbstjustiz war entschieden dagegen. »Abknallen«, sagte er, »einfach abknallen, dieses Lumpenpack. Und dann irgendwo verscharren.«
Alexej hatte aufmerksam zugehört und servierte nun, um die erhitzten Gemüter zu beruhigen, seinen eiskalten Wodka. Dann erbot er sich, für alle ein herzhaftes Frühstück zuzubereiten. Man stimmte zu und machte sich kurz darauf über Rührei und Speck her. Das Letzte, woran Vater sich erinnerte, war, dass ihm ein wenig flau wurde und er plötzlich Mühe hatte, die Augen offen zu halten.
Mitten in der Nacht kamen die Teilnehmer der Jagdgesellschaft wieder zu sich. Zuerst waren sie etwas verwirrt und orientierungslos, ihre Schädel dröhnten. Schnell kehrte die Erinnerung zurück, und man stellte fest: Alexej war weg. Das schmutzige Etwas war weg. Die Waffen waren weg. Die Munition war weg.
Wie erstarrt saßen sie am großen Tisch und entwarfen verschiedene Schreckensszenarien. Der Jüngste unter ihnen, ein Ahrensburger Autohändler, der zu viele schlechte Actionfilme konsumierte, mutmaßte, dass Alexej den Hippie als Geisel genommen hatte,
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