Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe - Frascella, C: Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe
weiter zu öffnen, so dass ich fast mein eigenes Blut schluckte, anstatt zu atmen, mit der Hand fasste ich nach meiner Leber, vielleicht war die Leber explodiert, vielleicht war mein ganzer Körper explodiert, und ich dachte, dass Sterben wirklich eine Frage von Sekunden war, außerdem sehr schlimm, so wie wenn man sagt: »Er hat einen schlimmen Tod gehabt …«, denn du weißt ja nicht, was das bedeutet, solange das Schlimme, wovon du bloß so ahnungslos daherredest, nämlich der Tod, nicht dir selbst passiert.
Dann wartete ich nur noch darauf, dass es zu Ende ging, aber es war nicht so, dass mein ganzes Leben vor meinen Augen ablief, wie es im Film gezeigt wird oder in Büchern steht; es gab bloß ein kaltes Warten, mit dem Kopf in der Guillotine und dem Henker irgendwo in der Nähe, der ein Seil schwingt oder einfach dran zieht und Schluss, dann hört man das leise Sausen der Klinge, die sich aus den Verankerungen löst und sekundenschnell Fahrt gewinnt, und schlagartig gehört dein Kopf dir nicht mehr, und dein Körper gehört nicht mehr zu deinem Kopf, und du bist bloß noch zwei getrennte Teile von etwas, was einmal ein Mensch war.
Schlag zu, Tony, dachte ich.
Und der beugte sich tatsächlich vor, um mich zu schlagen. Ich sah einen Lichtreflex an seiner Armbanduhr aufblitzen, als sein muskulöser Arm und die geballte Faust sich hoben und auf mein Gesicht niedergingen, doch statt erst anzuhalten, wenn sie meinem Kiefer oder Schläfenknochen einen Splitterbruch verpasst hatten, blieben sie knapp einen Zentimeter davor stehen, weil eine Stimme plötzlich einen Schild zwischen mir und seiner Faust aufrichtete, und Tony, der darauf trainiert war, immer im letzten Augenblick anzuhalten, bevor er seinen Gegnern in den Sporthallen, in denen er Pokale und Medaillen sammelte, ernsthaft schaden konnte, hielt beim Klang dieser Stimme so unnatürlich präzise inne wie ein Roboter.
Dabei hatte die Stimme nur »NEIN!« geschrien, ein einziges Wort, winzig wie der Spalt, der uns durch den Tod hindurch plötzlich wieder das Leben erblicken lässt, natürlich nicht für immer, aber wenigstens für eine Weile.
»NEIN!«
Und Tony hob den Kopf. »Chiara, Scheiße, was machst du denn hier?«
Chiara. Genau der Name, den du hören möchtest, wenn das Dunkel dich fast schon verschluckt hat.
Sie hatte scharf gebremst, und die quietschenden Reifen ihres Autos waren in der vorgestellten Szene meiner Enthauptung zur sirrenden Klinge des Henkers geworden. Beim Aussteigen hatte sie jenes NEIN! wie einen präzisen Befehl geschrien, den Tony Champion auf der Stelle befolgen musste.
»Mistkerl, was hast du gemacht, lass ihn gehen …« Chiaras Stimme schien aus den Weiten des Alls zu kommen. »Ich hatte dich gebeten es nicht zu tun ich hatte dich fast angefleht ihn nicht zu schlagen Tony was bist du bloß für ein Vieh …« Ich spürte, wie sie mich anfasste und mir über den Rücken und die Brust strich, während sie mich aufrichtete. Ihre Hände, die mich bis jetzt nur roh berührt, nie gestreichelt hatten, erschienen mir wie Blütenblätter auf der Haut. »… Was hast du ihm angetan willst du ihn umbringen bloß weil er dein Scheißmotorrad zerkratzt hat guck mal wie stark er blutet wie viel Blut ihm aus der Nase kommt UND IHR BEIDEN WICHSER WAS STEHT IHR DA HERUM UND GLOTZT KOMMT HER UND HELFT MIR ER VERBLUTET UNS NOCH, SCHEISSE …«
Sie hoben meinen Kopf an und lehnten ihn gegen etwas Hartes, und schon flossen mir Ströme von Blut über die Brust, als hätte ich sie mir bis zu diesem Moment aufgespart.
Während sie zu viert um mich herum hantierten, ohne recht zu wissen, was sie tun sollten, öffnete ich die Augen und sah hinter ihren Umrissen, hinter allem, den Himmel.
»Ich bringe ihn ins Krankenhaus«, sagte Chiara nach einer Weile.
Erst wollte ich protestieren, dann verzichtete ich, denn es schien mir doch die vernünftigste Entscheidung zu sein, wegen des vielen Bluts, das immer nur kurz stockte und dann wieder floss.
»Wir rufen einen Krankenwagen«, wagte Tony vorzuschlagen.
»Ja, klar, wenn du Ärger bekommen willst«, fertigte sie ihn ab.
»Ich will nichts damit zu tun haben«, erklärte Moderzahn. »Tut so, als wäre ich nicht da.«
So hoben sie mich zu dritt auf – auch der Pusher machte mit, der im Grunde mehr in der Birne hatte als der andere –, doch für ein Gewicht wie mich hätte Tony allein natürlich ausgereicht. Und er war es dann auch, der mich auf den Beifahrersitz von Chiaras Auto setzte, von
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