Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)
schnell wie möglich die Straße entlang. Ich rutschte aus, als ich ihr hinterherlief. Dann schrie ich ihren Namen, und sie blieb stehen und drehte sich um. Ihr Gesicht sah dunkel aus vor dem ganzen Schnee, und ich fand sie so hübsch, dass ich vergaß, was ich sagen wollte. Was willst du, Jamie . Sie hörte sich nicht sauer an, nur müde und genervt. Vielleicht auch gelangweilt, und das fand ich am allerschlimmsten. Mir wurde ganz kalt, und das hatte nichts mit dem Schnee zu tun. Ich hätte gern irgendwas Witziges gesagt, um ihre Augen wieder zum Glitzern zu bringen, aber mein Kopf war leer, und ich starrte Sunya nur an. Die Schneeflocken wirbelten um uns herum, und nach einer Weile sagte ich Wie viele Menschen hast du heute gerettet, Girl M , und Sunya verdrehte die Augen. Ich habe tausendundvier gerettet, aber es war ein ruhiger Tag , sagte ich. Sunya verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte ungeduldig. Ihr Hijab flatterte im Wind und war mit Schneeflocken gesprenkelt. Sie sah jetzt ärgerlich aus, deshalb sagte ich Danke , und sie fragte Wofür . Ich trat einen Schritt auf sie zu. Dafür, dass du den Figuren Pimmelhörner aufgesetzt und es Daniel heimgezahlt hast . Und stumm fügte ich noch hinzu Für alles . Sunya zuckte die Achseln. Das hab ich nicht für dich gemacht, sondern für mich selbst . Sie drehte sich um und stapfte davon, und ihre Füße hinterließen tiefe Abdrücke im Schnee.
15
Ich habe Dad die ganze Woche lang gesagt, dass er morgen um Viertel nach drei in der Schule sein muss. Ich hoffe, er trinkt vorher keinen Alkohol. Ich möchte nicht, dass er mich oder Mum in eine peinliche Lage bringt. Mum hat meinen Brief nicht beantwortet, aber ich weiß, dass sie kommt. Ich glaube fest daran. Jedenfalls hoffe ich es. Gestern habe ich eine Stunde und dreizehn Minuten lang die Finger verschränkt, zur Sicherheit. Jas hat gesagt Mach dir keine zu großen Hoffnungen , aber ich habe geantwortet Mum verpasst bestimmt nicht den Elternabend . Für meine Geschichte aus der Sicht von Jesus habe ich eine Eins gekriegt, und mein Engel sitzt jetzt auf Wolke sieben. Ich kann kaum erwarten, dass Mum den Aufsatz liest.
Als ich aus der Schule kam, blinkte das Licht am Anrufbeantworter. Ich dachte mir, es könne Mum sein wegen morgen, und deshalb sparte ich mir die Nachricht noch ein Weilchen auf. Dad schlief auf dem Sofa. Die Urne stand neben ihm auf einem Kissen, und das Vatertagbild war unter seinem Doppelkinn eingeklemmt und flatterte jedes Mal, wenn er ausatmete. Ich machte die Tür zu, fütterte Roger, putzte mir die Zähne, wusch mir das Gesicht und kämmte mir mit den Fingern die Haare. Seit Monaten hatte ich Mums Stimme nicht gehört, und ich wollte gut aussehen dafür. Das Spider-Man-Shirt war inzwischen so zerknittert und schmutzig, dass ich es mit einem feuchten Handtuch abrieb und dann noch mit meinem Deo besprühte.
Als ich fertig war, zog ich mir einen Stuhl ans Telefon und setzte mich hin. Ich war ziemlich aufgeregt. Langsam streckte ich einen Finger zu dem Knopf aus. Meine Hand leuchtete rot in dem Anzeigelicht. Ich wollte unbedingt Mums Stimme hören, aber plötzlich machte ich mir Sorgen. Vielleicht wollte sie auch absagen. Ich fing an bis dreißig zu zählen, aber bei siebzehn drückte mein Finger plötzlich auf den Knopf.
Eine Frauenstimme. Ah, hallo , sagte sie überrascht, wahrscheinlich wegen des Anrufbeantworters. Erst mal klang sie nicht wie Mum, aber am Telefon hören sich die Leute immer anders an als sonst. Ich verschränkte wieder die Finger.
Guten Tag, Mr. und Mrs. Matthews, ich bin Miss Lewis, Jasmines Klassenlehrerin. Kein Grund zur Sorge, aber Jasmine ist seit letzten Freitag nicht in der Schule gewesen, und ich wollte nur sichergehen, dass Sie bei Ihnen zuhause ist. Ich nehme an, dass es ihr nicht gut geht. Könnten Sie mich bitte heute Nachmittag anrufen und mir Bescheid geben. Wenn Jasmine krank ist, hoffe ich, dass es ihr bald besser geht und sie in den nächsten Tagen wieder in der Schule sein kann. Vielen Dank.
Zuerst dachte ich nur Es ist nicht Mum es ist nicht Mum es ist nicht Mum und hörte nicht richtig zu. Deshalb spulte ich die Nachricht zurück, und als ich sie noch mal anhörte, blieb mir der Mund offen stehen. Jas war nicht krank. Sie war morgens in ihrer Schuluniform losgegangen.
Ich war so schockiert, dass ich mich nicht rühren konnte. Roger sprang auf meinen Schoß. Sein Schwanz wand sich durch die Luft wie diese tanzenden Schlangen in dem Aladdin-Film
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