Meine Schwester und andere Katastrophen
stattdessen Sorgen? »Cassie, dürfen Buddhisten Pelzmäntel tragen?« »Cassie, ist es möglich, dass ein Leichnam furzt?« »Cassie, verstehst du eigentlich, warum man ›simsen‹ sagt? Sollte man nicht lieber ›shomsen‹ sagen, schließlich steht SMS für › shortmessage service?‹ «
Sie ist so … zerstreut . Sie wurde von ihrer eigenen Schwangerschaft überrumpelt. Sie hat keine Ahnung. Meine Chefin Sophie und ich bestaunten den kleinen Justin - tief schlafend, mit herrischem Blick und die Fäuste fest geballt, nachdem er sich eine Stunde lang das Gesicht blau geschrien hatte -, und ich dachte bei mir, wo ist dein Schlagring mit der Aufschrift »TRAU DICH«?
Wenn Lizbet keine eigene Meinung zu Babys gehabt hätte, meinetwegen. Aber sie betrachtet Kinder als Verstoß gegen ihre menschliche Würde. Als Tante Edith einst von Lizbet wissen wollte, wann sie ein Kind bekommen würde, erwiderte Lizbet nur: »Das ist meine Sache.« Tante Edith ist eine alte Dame . Außerdem ist sie diejenige, die uns beide die ganzen siebziger und achtziger Jahre hindurch jeden Freitag mit selbst gebratenen Kalbsschnitzeln fütterte oder mit Rindsgulasch, Softeis mit Schwarzkirschen und hauchdünnen Waffeln, Windbeutelschwänen (selbst die Hälse waren aus Kuchenteig) oder Baisertorte mit rosa Zuckerguss, Himbeeren und gehackten Pistazien. Man hätte also durchaus ein wenig nachsichtig sein können. Lizbet hat nicht den Grips zu begreifen, dass die Frage keine Beleidigung ist, wenn sie von Herzen kommt. Schließlich hat Tante Edith ihretwegen sogar das Ladz Mag abonniert.
Aber eigentlich müsste es mir klar sein. »Mutter« war für Lizbet immer ein Schimpfwort gewesen. Sie findet Mütter bedrohlich, ihre eigene eingeschlossen. Ich behandle Mutter mit völliger Gleichgültigkeit, aber das ist ihre eigene Schuld. Sie hatte sich wirklich keine Mühe gegeben, ihren Job zu erledigen, und damit meine ich nicht den als Chefredakteurin von Mother & Home . Als wir klein waren, spielten wir ausschließlich mit den Kindern in unserer Straße, weil Mummy uns nie am Schultor abholte, wo sie andere Mütter kennen gelernt hätte, sodass wir auch in anständige Häuser eingeladen worden wären.
Sechzehn Jahre lang war ich ungezogen, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, ohne dass ich viel damit erreicht hätte. Tante Edith hingegen vergötterte ich; bei ihr sah ich, was eine Mutter alles leisten konnte. Tante Edith konzentrierte sich ausschließlich auf uns, und nichts, was ich tat, konnte
ihre Liebe erschüttern. Im zarten Alter von vier Jahren biss ich sie und erklärte ihr, dass sie »richtig scheiße« wäre. (Sie hatte mir nicht erlaubt, das »magische Lockenhaar« meiner Lockenbarbie mit einem Obstmesser zu kürzen.) Tante Edith sagte: »Dein Benehmen ist inakzeptabel, junge Dame. Außerdem stimmt es mich traurig, weil ich dich liebe, Cassie. Entschuldige dich, dann können wir uns umarmen und wir sind wieder Freunde.«
Das sollte mir immer im Gedächtnis bleiben, und Jahre später hatte ich sie daran erinnert. Sie hatte lächelnd geantwortet: »Du warst überhaupt nicht ungezogen, Cassie. Du warst ein ganz normales Kleinkind - lärmend, anstrengend, nicht müde zu bekommen. So sind Kinder eben!«
Warum war unsere Mutter nicht so?
Lizbet begreift nicht, dass Mutter zu sein eine wichtige Aufgabe ist, dass es die allerwichtigste Aufgabe ist. Kein Mensch meint, dass sie zu nichts anderem zu gebrauchen ist - aber selbst wenn, wäre das ein Kompliment, auch wenn es uns mit unseren verschobenen Maßstäben nicht so erscheint. Eine gute Mutter braucht ein Rückgrat aus Stahl. Sie braucht unerschöpfliche Energien, ganz anders als die städtischen Weicheier, die nur funktionieren, wenn sie jede Nacht fünf Stunden ungestört durchschlafen können. Sie muss hellwach, geduldig, spaßig, einfallsreich, diplomatisch, selbstlos, umsichtig, kreativ, clever, liebevoll sein, und zwar bis … ach was, ihr ganzes Leben lang. Aber das interessiert alles nicht. Was Lizbet wirklich glücklich machen würde, wäre die Aussicht, ein dreihundert Worte langes Feature über Unglücksfälle beim Masturbieren schreiben zu dürfen, das auf Seite dreiundneunzig der »Schmutz-Sonderausgabe« von Ladz Mag abgedruckt wird.
Weil sie in ihrer Jugend nie zu den aufregenden Mädchen
gehörte, will sie jetzt um jeden Preis aufregend sein - und für Ladz Mag zu schreiben mag zwar so wenig aufregend sein wie ein Job als Putzfrau, aber für sie ist es irgendwie schon
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