Meine Schwester und andere Katastrophen
den Verlust eures Babys empfindet. Ihr wetteifert darum, wer mehr trauert. Habt ihr jemals darüber gesprochen? Weil Lizbet einer langen Familientradition des Nichtredens entstammt. Wir sind sogar stolz darauf! In unserer Familie gibt es keine Gespräche. Scheiß auf alles! Wir sprechen nicht miteinander! Niemand sagt, was er denkt! Ich bin ihre Schwester, und ich weiß, wann sie wütend ist, und sie ist so wütend, wie ich sie noch nie erlebt habe. Sie sagt, es geht ihr gut, dabei verweigert sie sogar das Essen. In letzter Zeit verweigert sie alles, was sie wirklich liebt! Tun das nicht manche Menschen, wenn ihnen wehgetan wurde? Alle um sie herum vergraulen, damit sie nie wieder einen so
tiefen Schmerz empfinden müssen? Aber ohne dich kann sie nicht glücklich werden, und ich glaube nicht, dass du ohne sie glücklich wirst. Also, vielleicht -«, ich schnappte nach Luft, rang um Atem, und mein Herz pochte wie wild. Mir war hundeelend. »Vielleicht -«, meine Beine wurden ganz warm und schwach - »mir ist so komisch, ich -«
Die Welt kippte seitwärts weg, und ich fiel auf den dünnen Teppich in Tims und Lizbets Schlafzimmer.
»Cassie!«, rief Tim und kam angelaufen. »Was ist denn? O Gott, das ist das Baby! Ich rufe einen Krankenwagen!«
Ich schüttelte den Kopf. Es kostete mich ungeheure Mühe, auch nur ein Wort herauszubringen. »Nein. Nicht … schlimm. Nur … müde. Schwindlig. Muss liegen. Wasser.«
»Ich lege dich aufs Bett. Halt dich an mir fest.«
Tim bückte sich und hob mich sanft hoch.
Lizbet platzte ins Schlafzimmer, starrte uns mit aschfahlem Gesicht an und stieß ein dramatisches Heulen aus. Dann rannte sie hinaus und knallte die Haustür hinter sich zu.
KAPITEL 25
Der angesagteste Spezialist - ein Ire mit sanfter Stimme, vergöttert von Heerscharen von Schwangeren - erklärte mir, dass ich einen zu niedrigen Blutdruck habe und nicht so viel herumrennen solle.
»In Deutschland würde man so was behandeln, aber in diesem Land betrachten wir das nicht als Problem.«
Für ihn war es vielleicht kein Problem. Ich war anderer Meinung. Ich hatte Lizbet x-mal auf ihrem Handy angerufen, aber sie hatte jedes Mal aufgelegt. Sie war nirgendwo zu finden, und ich machte mir Sorgen um sie. Nachdem wir den ganzen Tag nach ihr gesucht hatten, berieten ihr Mann und ich am Telefon. Er war wesentlich ungnädiger als ich.
»Hör auf zu suchen«, sagte Tim. »Das zeigt nur, wie wenig sie mir vertraut.«
»Ja«, sagte ich, auf dem Sofa ausgestreckt, »aber stell dir mal vor, wie das ausgesehen haben muss. Jeder hätte das Gleiche gedacht wie sie.«
»Aber das war doch ich !«, rief er. »Sie weiß, wie ich bin! Ich bin ein verflixter Labrador! Und trotzdem glaubt sie, dass ich es mit ihrer Schwester treibe! Das ist so demütigend! So demütigend! Das ist so eine Demütigung!«
Ich war ein bisschen pikiert, dass er es so demütigend fand, sagte aber nur: »Dir ist schon klar dass sie gekommen ist, um sich bei dir zu entschuldigen?«
»Woher willst du das wissen?«
»Tim«, sagte ich. Die selektive Wahrnehmung der Männer setzt mich immer wieder in Erstaunen. Sie sehen rein gar nichts! Über die Hälfte von ihnen bräuchte einen Blindenstock. »Hast du denn nicht gesehen, was sie in der Hand hatte?«
»Nein.«
»Eine Schachtel mit einem Datenkabel für den iPod.«
Es wurde still.
»Tim?«
»Ich habe ihr nicht mal erzählt, dass ich es verloren hatte«, sagte er kleinlaut.
Das Telefon läutete gleich wieder, darum nahm ich den Hörer ab und fragte kühl: »Hallo?« (Noch etwas, was mir bei George auf den Geist ging: seine Unfähigkeit, sich zwischen »Ja bitte?« und »Hallo« zu entscheiden. Stattdessen meldete er sich am Telefon, als wären wir ein Stromunternehmen: »Jello!«)
»Schätzchen, du hast bei uns angerufen. Ist alles in Ordnung? Soll ich Daddy beauftragen, irgendwas für dich einzukaufen?«
»Nein danke. Mir geht es gut. Habt ihr mit Lizbet gesprochen?«
»Nicht seit sie am Freitag abgerauscht ist. Ich nehme an, sie hat sich über meine Bemerkung mit den Babysachen geärgert. Zugegeben, das hätte ich nicht sagen sollen, aber im Grunde habe ich es nur gut gemeint. Man muss nach vorn schauen. Irgendwann kommt man an den Punkt, wo es nur noch wehtut, auf so einer Sache herumzureiten. Aber trotzdem muss ich sagen, dass sie gut aussieht.«
Unsere Mutter war insofern das Gegenteil einer normalen
jüdischen Mutter, als sie glaubte, dass ihre Kinder gut aussahen, wenn sie dürr wie eine
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