Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
Musiker, kaum dass sie aufs Podium traten, mit solcher Leichtigkeit und Klasse davon Besitz, dass wir alle, die wir da unten standen, uns schlagartig wie ein Publikum von Welt aufführten – gerade so, als hätten wir seit eh und je Umgang mit Langhaarbeatles, die eine ganz neue Musik spielten und wunderschöne Mädchen in Miniröcken im Schlepptau hatten.
Ganz genau erinnere ich mich noch an die hagere Gestalt des Frontmanns Maurizio Vandelli, genannt ›der Fürst‹ (definitiv eine der originellsten italienischen Stimmen), mit seiner imposanten Double-Cutaway E-Gitarre (vielleicht eine Gibson SG wie die von Jimmy Page, wer weiß: damals verstand ich nichts davon). Wie sein Lockenschopf, der die Gesetze der Schwerkraft ignorierte, verlieh sie ihm den Nimbus eines internationalen Rockstars.
Mit ihm spielten Victor Sogliani am Bass (›Und an der Zigarette‹, sagte Vandelli am Schluss, als er ihn vorstellte – Sogliani hatte nämlich den ganzen Abend Kette geraucht), Alfio Cantarella am Schlagzeug und ein Keyboarder, dessen Namen mir nicht mehr einfällt.
Trotz meines (damals) blutjungen Alters erinnere ich mich daran, wie vertraut mir die Stücke klangen, obwohl ich die meisten davon zum ersten Mal hörte (ein Déjà-vu, das bei guter Musik typisch ist: irgendwo hast du sie schon gehört, da bist du dir sicher – auch wenn du sie definitiv noch nie gehört hast; es ist wie bei der Liebe auf den ersten Blick, wenn du das Gefühl hast, du hättest sie schon mal gesehen): solche Stücke wie Io ho in mente te, Tutta mia la città, Un angelo blu, Bang bang, Auschwitz, Pomeriggio: ore 6 (darin ging’s um Sex zwischen Teenagern: ein Thema, das heute paradoxerweise skandalträchtiger ist als damals) und außerdem denkwürdige Cover-Versionen von 29 settembre von Battisti und Gesù bambino von Dalla.
Den ganzen Abend wartete ich darauf, dass sie den einzigen Song spielten, den ich auswendig kannte, weil ich mir ein paar Jahre zuvor die Single gekauft hatte, nämlich Diario , aber sie spielten ihn nicht.
Diario ist ein Stück aus dem Jahr 1973 , Vandelli schrieb es zur Musik von Dario Baldan Bembo. Es handelt von einem Typen, der am Abend von der Arbeit nach Hause kommt und beim gewohnheitsmäßigen Abspulen seines Feierabendprogramms realisiert, dass seine Frau ihn verlassen hat.
Dass ihm ihre Abwesenheit durch eine schockartige Unterbrechung der vertrauten häuslichen Abläufe zu Bewusstsein kommt, ist eine typische Erscheinungsform der Trauer. (Bekanntlich kann frischer Schmerz ja durch Routine betäubt werden, indem sie ihn in ein provisorisches und fragiles Vergessen abdrängt, in eine Art Halbschlaf der Verzweiflung.)
So also kann’s gehen und ein armer Kerl, der frisch sitzen gelassen worden ist, kommt von der Arbeit nach Hause und überlässt sich dem langsamen Fluss der Gewohnheiten, als ob nichts vorgefallen wäre:
Sechs Uhr abends, ich komme nach Hause
alles sieht aus wie immer, so wie mit dir
ich schau in die Zeitung, mach den Fernseher an
besser ess ich noch was oder hol mir ein Bier
Am Anfang scheint alles noch ganz normal.
Aber dann passiert’s.
Etwas Irritierendes, ein Blitz, so was wie eine Erscheinung. Wie gesagt: ein Detail, eins unter vielen, und die beruhigende Oberfläche der Dinge hat plötzlich einen Riss und die Einsamkeit, die bis gerade eben noch verdrängt war, ist mit Händen zu greifen.
Hört mal, was für ein Detail das ist:
Immer wieder fällt mir, was kann ich dafür
etwas Asche zu Boden, du fegst sie wieder auf
Habt ihr mitgekriegt, wodurch dem Mann bewusst wird, dass er verlassen wurde?
Es ist ja nicht so, dass er nach Hause kommt, die Tür hinter sich zumacht und in Tränen ausbricht. Oder zum Beispiel ins Schlafzimmer geht, den Morgenmantel seiner Liebsten da liegen sieht und sich nicht mehr halten kann vor Schmerz. I wo: Ihm fällt Asche von seiner Kippe, und als er realisiert, dass niemand mehr da ist, der sie wegfegt, bricht ihm das Herz.
An dieser Stelle kommt tatsächlich ein Harmoniewechsel (in Entsprechung zum veränderten Gemütszustand des Protagonisten) und das Lied geht weiter:
Ich vergaß, Liebling, du bist nicht mehr hier
was du haben wolltest, bekamst du nicht von mir
Dann setzt ein lyrischer und absolut nobler Refrain ein, in dem sich der Verlassene zu einer Großmut aufschwingt, wie er eines Mannes mit unglaublich weitem Horizont würdig ist:
Geh unter die Leute, wie’s dir als Frau gefällt
Zieh durch die Städte, kreuz und quer durch die
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