Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
versprengter Leute waren, die letzten Überbleibsel aus einem Kampf, der, wie bereits mit bloßem Auge erkennbar, den Draht zur Wirklichkeit verloren hatte und bereits zum melancholischen Low-Budget-Remake seiner selbst geworden war. (Wie die Bemerkung von Vittorio Gassman am Schluss von Wir hatten uns so geliebt : ›Die Zukunft ist vergangen, und wir haben es nicht mal gemerkt.‹)
Na gut, der Rest ist Geschichte.
Dann kam es, wie es kommen musste. Wir wissen es: Aus und vorbei mit automatischer Ermäßigung, bewaffnetem Kampf, Revolution, Autonomia Operaia.
Auf Konzerten bezahlt man seitdem Eintritt – und was für einen!
Die Musiker sind Rockstars geworden oder haben es wenigstens versucht, ohne sich dafür zu schämen. Sie haben angestanden, um den Sprung ins Fernsehen zu schaffen, sind zum Schlagerfestival von Sanremo gefahren und auch zu Festivalbar.
Und wenn sie sich früher in den Konzerten verteidigten, wenn ihnen der Prozess gemacht wurde, beschweren sie sich jetzt darüber, wenn man ihre Platten aus dem Netz herunterlädt. Sie sprechen schlecht über Drogen, über lieblosen Sex, über Politik, die nicht die Sprache der einfachen Leute spricht. Sie heiraten (einige sogar kirchlich), gründen Familien, entdecken für sich die Werte, geben das Trinken auf (auch sonstige Drogen) und raten den jungen Leuten, doch nicht ihr Leben zu vergeuden.
Der Markt hat die Oberhand gewonnen. Das Publikum hat das Volk vor die Tür gesetzt. Heute sind wir freier. Wir können kaufen, was wir wollen.
Letzten Endes ist es aber kein Zufall, wenn wir immer weniger Musik haben, die zu kaufen sich lohnt.
I have a dream
Das Publikum applaudiert wie ferngesteuert und auf Kommando, als Daria Bignardi (heute wirklich hochelegant) das Studio betritt. Der Applaus verhallt erst, als sie die Bühnenmitte erreicht und sich mit dem Rücken zur Großbildleinwand aufgestellt hat, auf der in Zeitlupe Bilder der Geiselnahme laufen.
Strahlend begrüßt sie jetzt die Zuschauer und kündigt den Titel des Talks an: Handgemachte Justiz .
Wir geladenen Gäste sitzen uns bereits in zwei Dreierreihen gegenüber.
Ich im violettblauen Anzug und meinen alten, praktisch ausgelatschten Blundstone-500-Boots, die meinem Outfit genau den richtigen nachlässigen Touch geben, in der Mitte zwischen Giancarlo De Cataldo und Ambra. (Um mein Outfit zu vervollständigen, habe ich mich für einen Dreitagebart entschieden und trage keine Krawatte.)
Uns gegenüber sitzen Emanuele Filiberto, Vittorio Sgarbi und Fabrizio Corona (der unentwegt auf meine Blundstones starrt, wobei mir nicht klar ist, ob sie ihm, so ausgelatscht, besonders gut gefallen oder ob er aus demselben Grund von ihnen angewidert ist).
Die Bignardi stellt uns unter Willkommensapplaus vor, während die Fernsehkamera dienstfertig an jeden von uns heranzoomt und unsere Gesichter in der Reihenfolge unserer Vorstellung archiviert (das erste – würde ich auch gern sehen – ist meines).
Und dann geht es los.
In ein paar markigen (dramaturgisch wirklich hervorragend gescripteten) Sätzen fasst die Bignardi das Supermarktabenteuer zusammen und bittet die Regie, ein paar Sequenzen daraus zu zeigen. (Die Auswahl – wie sollte es auch anders sein – fokussiert natürlich auf die drastischen Momente, in denen mir Ingenieur Romolo Sesti Orfeo eine antiquierte Auffassung des Anwaltberufs vorwirft und wo er die Theorie vertritt, das Fernsehen sei der exklusive Ort für den einzigen Prozess, der wirklich etwas zählt.)
Dann eröffnet die Bignardi den Diskussionsreigen mit Ambra (darauf hätte ich wetten können):
»Ich weiß nicht, wie es euch gegangen ist«, setzt sie strahlend an, »aber ich habe schon lange nicht mehr so gefesselt vor dem Fernseher gesessen. Mal abgesehen davon, dass es bei dem live miterlebbaren Supermarktdrama um wirklich wichtige Themen ging – zum Beispiel die Darstellung von Gerichtsverhandlungen im Fernsehen oder die Frage, ob man Selbstjustiz betreiben darf – ganz abgesehen davon glaube ich, dass wir in diesem Supermarkt die mitreißendste und tragischste Fernsehsendung nach dem Elften September erlebt haben.«
Sie hält inne und lächelt mit gewinnend-aufforderndem Lächeln in die Kamera – der erwartete Applaus bleibt jedoch aus. (Was die Bignardi vollkommen aus dem Konzept bringt. Und zwar zu Recht. Denn Irritationen im Applaudierverhalten sind ungefähr so fatal wie Gäste, die mit ihren Antworten von vornherein auf Zeit spielen. Das führt zu so etwas wie
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