Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
gefressen, weshalb er geradezu darauf brannte, seiner Antipathie Luft zu verschaffen (so was kann’s bei Fernsehleuten schon mal geben).
Um sich keine Blöße zu geben, setzte die taffe Journalistin ein freundliches Lächeln auf (ein gutes Schutzschild gegen Bloßstellungen – genauso wie so zu tun, als sei man über den verbalen Angriff amüsiert). So richtig gelingen wollte ihr das aber nicht – im Grunde konnte sie nur schlecht verbergen, dass sie getroffen war.
Deshalb versuchte die arme Rai-Journalistin, ganz profimäßig wieder auf Live-Fernsehberichterstattung umzuschwenken, aber gleich darauf wurde ihr bewusst, dass sich das nicht lohnte, da in der Reality-Show jeder Kommentar eine Verfälschung ist, weil es sich ja um ein selbstgenügsames Format handelt (Moderatoren sind in Reality-Shows höchstens dazu gut, Nominierungen bekanntzugeben oder Papa und Mama des jeweiligen Deppen live dazuzuschalten, wenn der in dem mit bordellrotem Teppichboden ausgelegten Kämmerlein, aus dem die Konkurrenten mit dem Studio kommunizieren, zu plärren anfängt, er wolle nach Hause, und seine Alten ihm öffentlich versichern, wie stolz sie auf ihn sind).
Matrix wirkt mittlerweile ziemlich fertig; genauer: unkoordiniert. Die Unmöglichkeit, Arme und Beine zu bewegen, hat ihn in eine Unruhe versetzt, die er durch ständige Positionswechsel abreagieren will: von der Hocke wechselt er ins Kauern, geht in die Knie, dreht sich auf die Seite, steht wieder auf.
In seinen Augen funkelt trotz allem aber noch ein geradezu bewundernswerter Kampfgeist, und er konzentriert sich ganz auf die Anstrengung, Ingenieur Romolo Sesti Orfeo nicht anzusehen: ihm den Blick zu verweigern ist das einzige Mittel zur Beleidigung, das ihm zur Verfügung steht.
Ich rekapituliere das Vorgefallene und überlege gleichzeitig:
Hier drin sind nur noch wir drei (Matteo der Wurstwarenverkäufer bekam vor kurzem die Erlaubnis zu gehen).
Ingenieur Romolo Sesti Orfeo hat einen Mann gefangen genommen und ihn in der vorgesehenen Weise den Fernsehkameras präsentiert. Er hat aller Welt sein Drama erzählt. Sich selbst mit Vor- und Nachnamen vorgestellt, und sein Opfer genauso.
Er hat die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen und das Eingreifen der Ordnungskräfte erreicht.
Hat dafür gesorgt, dass das Gebäude isoliert und umstellt wurde. Dass eine nicht näher bestimmte Anzahl von Menschen, Mitteln und Spezialisten mobilisiert wurde, um die Situation zu entschärfen. (Mittlerweile wird sich draußen wohl bereits das übliche Grüppchen von Pro-Boss-Demonstranten formieren, und sei’s nur, damit der kollektive Zusammenhalt wieder ein bisschen in die Krise gerät.)
Das vom Zentralcomputer des Supermarkts gespeicherte und im Fernsehen live übertragene Video wird schon bald zum Gegenstand der Untersuchung, der Polemik und vor allem der Fledderei durch die Medien werden – und zwar für ziemlich lange.
Selbst wenn Ingenieur Romolo Sesti Orfeo hier einlenken und sich lediglich auf die Geiselnahme beschränken würde, ginge er in die Geschichte ein. (Ob er schießt oder nicht, ist an diesem Punkt ziemlich nebensächlich. Er ist schon jetzt zu einer Ikone der Zivilgesellschaft geworden – auch wenn das vielleicht gar nicht in seiner Absicht lag. Zu einer Ikone, die nichts mehr zu verlieren hat und verzweifelt zum Gegenangriff übergeht.)
Demnächst wird, wie Mulder uns mitgeteilt hat, der Ermittlungsrichter Carlo Alberto Garavaglia eintreffen, der seit Jahren in Sachen Gabriele Caldiero (alias Matrix) ermittelt und sich mit Ingenieur Romolo Sesti Orfeo unterreden will (exakt dieses Verb hat Mulder benutzt), vermutlich in der Absicht, ihn davon abzuhalten, bis zum Äußersten zu gehen. (Ingenieur Romolo Sesti Orfeo hat hierzu nur kommentiert: ›Ich habe Herrn Dr. Garavaglia nichts zu sagen, außer dass ich heute das tun werde, wozu er offensichtlich nicht in der Lage ist‹.)
Sein Plan ist also, unabhängig vom Finale, das uns erwartet, perfekt aufgegangen.
Aber ausgerechnet jetzt, wo es langsam spannend wird (okay, okay, nicht der beste Witz), reicht es mir mit dieser Geschichte. Ich tue mir nämlich plötzlich ziemlich leid und halte es hier nicht mehr länger aus.
Wenn ihr denkt, in einer Situation wie dieser wäre es unangebracht, sich selbst zu bemitleiden, dann irrt ihr euch. Mein ganzes Leben lang lasse ich mich schon in Sachen verwickeln, die nichts mit mir zu tun haben, und bleibe an Orten, von denen ich eigentlich wegwill.
Wie oft war ich nicht
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