Meine Trauer geht - und du bleibst
gelingt, wird unsere Energie nicht in ergebnislosen Verstehensversuchen verpuffen, sondern sie kann sich dem geliebten Menschen zuwenden. Je klarer wir dieses realisieren und gelten lassen, desto klarer und näher kann uns der geliebte Mensch paradoxerweise kommen. Und doch wird es immer wieder Augenblicke geben, in denen die ganze Unbegreiflichkeit, ja »Verrücktheit« des Geschehenen aufbricht und wir uns wieder fassungslos an den Kopf greifen. Wir sollten uns dann diesem erneuten Nicht-Begreifen aussetzen und es bewusst annehmen. Es macht das Ungeheuerliche, das unserem geliebten Menschen und uns selbst geschehen ist, immer wieder deutlich. Und gerade das verhindert, dass wir in der Normalität des Alltags versinken und so leben, als wäre nichts geschehen. Es ist etwas geschehen, nämlich das Schlimmste, was geschehen kann. Und das hat alles verändert – bis heute, bis an das Ende unserer Tage.
Ein Leben ohne dich – ein Leben ohne eine Zukunft mit dir
Noch ein Weiteres ist durch den Tod des geliebten Menschen ganz anders geworden, nämlich die gemeinsame erhoffte, gedachte und geplante Zukunft. Sie ist plötzlich zunichte gemacht, den Weg in die gemeinsame Zukunft hat der Tod ein für alle Mal verbaut. Wenn es gilt, in der Trauerarbeit Abschied zu nehmen, dann ist es Aufgabe des Trauernden, die gemeinsame Zukunft zu verabschieden.
Ein junges Paar, beide Mitte zwanzig, plant den Umbau eines alten Hauses. Die Pläne sind schon angefertigt. Dann verunglückt der Mann wenige Tage vor der Hochzeit des Paares tödlich bei einem Motorradunfall. Der jungen Frau ist sofort klar, dass sie alleine oder auch später mit einem anderen Partner das Haus nicht mehr umbauen wird, jedenfalls nicht entsprechend den gemeinsamen Planungen. Sie legt die Bauzeichnungen weg und sagt dem Architekten ab.
Was als gemeinsame Zukunft vor Augen stand, ist nun ausgelöscht. Endet damit auch das eigene Leben? Das ist das erste Grundgefühl unmittelbar nach dem Tod des geliebten Menschen, zumal der Schmerz und die Trauer den Hinterbliebenen ganz auf die Gegenwart fixieren. Als Trauernde können wir nur Tag für Tag überleben und funktionieren. Der Blick in eine Zukunft, die es so nicht mehr gibt, geht ins Leere. So etwas wie eine Zukunftsplanung ist undenkbar. Erst allmählich realisieren wir, dass wir die gemeinsam erhoffte Zukunft begraben müssen. Das ist zunächst mehr ein Gewöhnungsprozess als eine bewusste Entscheidung. Irgendwie geht das Leben weiter, ohne dass wir es planen und entwerfen würden. An kleinen, fast nebensächlichen Schritten entdecken wir, dass wir doch in die Zukunft denken. Wir vereinbaren einen Besuch bei Freunden, wir planen einen Kurzurlaub oder wir denken daran, im nächsten Frühjahr den Garten umzugestalten. Unbemerkt entsteht in uns so wieder eine Zukunftsfähigkeit, die aus dem Unbewussten kommt, weil unsere Seele als wachsendes System immer auch in die Zukunft hineinlebt. Erst jetzt können wir uns bewusst auch von der gemeinsamen Zukunft mit dem geliebten Menschen verabschieden. Was wir gemeinsam geplant und erhofft haben, ist so nicht mehr möglich. Ich muss mich verabschieden vonder Vorstellung, dass ich mit meinem Sohn erleben werde, wie er studiert, wie er seinen Beruf macht, wie er vielleicht heiratet und Kinder haben wird. All das stelle ich mir manchmal vor und zugleich weiß ich, dass ich es mit ihm nicht mehr erleben werde.
Manches von dem gemeinsam Geplanten – wie etwa eine besondere Urlaubsreise – kann ich dennoch machen, zwar ohne meine geliebten Menschen, aber doch so, dass er für mich innerlich dabei ist. Allmählich aber werde ich in mir auch wieder Lebenswünsche spüren, für die ich in die Zukunft blicke und die ich noch umsetzen will. So wird die vorliegende Lebenszeit wieder zu meiner eigenen Zukunft, die ganz anders ist als gedacht.
Dein Tod hat mich nicht zerbrochen – und doch bleibt etwas Gebrochenes in mir
Der Tod eines geliebten Menschen ist nicht nur ein tiefer Einschnitt in das Leben eines Hinterbliebenen, sondern auch ein vernichtender Schlag, der alles zu zerbrechen scheint. Trauernde kommen in den ersten Zeiten nach dem Verlust deshalb häufig an die Grenzen der eigenen Kraft, und sie stellen sich immer wieder die Frage: »Habe ich genug Kraft, das Schlimmste, was mir geschehen konnte, auszuhalten und zu tragen? Werde ich daran nicht zerbrechen?« Fast alle Trauernden machen die dann doch überraschende Erfahrung, dass ihre Seele ihnen gerade die Kraft zu
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