Meine Trauer geht - und du bleibst
Verfügung stellt, die nötig ist, um das Schlimmste zu überstehen. Manche werden durch den Tod in ihren Stärken so herausgefordert, dass in ihnen ganz ungeahnte Kräfte wach werden. Im Rückblick wissen wir oft nicht, wie wir die schlimmste Anfangszeit der Trauer überstehen konnten, und wir wundern uns, dass wir daran nicht zerbrochen sind. Wenn es in der Trauer überhaupt ein Wunder gibt, dann ist es neben der Entdeckung der unendlichen Liebe zum Verstorbenen die Entdeckung, dass meine Seele ungeahnte Kräfte in sich hat, die auch dem Tod widerstehen können.
Auch wenn Trauernde nicht an ihrem Verlust zerbrechen, zerbricht etwas in ihnen, das als Gebrochenes zurückbleibt. Eltern, deren Kind stirbt, verlieren oft auch etwas von ihrem Vertrauen in das Leben. Ein Teil des selbstverständlichen Urvertrauens geht zuBruch und ist kaum mehr wiederherzustellen. Ähnlich geht es Geschwistern, die Bruder oder Schwester verloren haben, und Kindern, deren Eltern zu früh starben. Oft fühlen sie sich immer ein wenig fremd im Leben. Menschen, die ihren Partner verlieren, verlieren häufig einen Teil ihrer Offenheit gegenüber dem Leben.
Auch wenn ich als Trauernder nicht zerbreche, so bleibt doch etwas Gebrochenes in mir. Der Tod als zerstörerische Macht hat mich damit unwiderruflich verändert. Auch beraterische oder therapeutische Hilfe kann dies nicht heilen. Es geht darum, wie ich mit dem Gebrochenen in mir leben kann. Ich kann es abspalten oder einkapseln, doch auf Dauer bleibt dies als verschlossener Fremdkörper virulent. Besser ist es, das Gebrochene in mir anzuerkennen als etwas, das immer wieder schmerzen wird. Der Tod meines geliebten Menschen hat mich damit für immer gezeichnet. Mit dem Tod, der mich gezeichnet hat, bin ich ein anderer geworden. Auch darin ist mein geliebter Mensch in mir eingezeichnet und eingeschrieben. Und auch deshalb werde ich meinen geliebten Menschen nicht verlieren. Das Gebrochene in mir bleibt eine offene Stelle, in der sich mein geliebter Mensch finden lässt.
Und ich entscheide mich wieder für mein Leben
Die Abwesenheit des geliebten Menschen und die Unbegreiflichkeit bleiben, die Zukunft wird ohne ihn zu leben sein, und mit dem Gebrochenen in mir muss ich zurechtkommen. Trauernde wehren sich zunächst gegen diese unumstößlichen Tatsachen ihres nun ganz anderen Lebens, bis sie einsehen müssen, dass sie nichts daran ändern können. Allmählich gewöhnen sie sich an diesen Zustand im Sinne des Satzes: »So ist es jetzt eben.« Diese eher resignative Gewöhnung an das Unveränderliche aber lähmt nicht nur das eigene Leben, sondern auch die Liebe zum Verstorbenen.
Deshalb ist es gegen Ende des Trauerweges sinnvoll, sich noch einmal bewusst für das jetzige Leben als das eigene Leben zu entscheiden. Es ist zwar ein Leben ohne meinen geliebten Menschen, aber es ist mein Leben, und ich will es wieder zu meinem machen. Ich kann mir bewusstmachen, dass mein geliebter Mensch mir genau diese Entscheidung wünscht. Und ich lebe dieses Leben,das wieder zu meinem wird, nicht nur für mich. Ich lebe es auch für meinen geliebten Menschen, indem ich zum Beispiel etwas von ihm als Vermächtnis und als Aufgabe weiterlebe. Ich entscheide mich für mein Leben und so auch dafür, in diesem Leben meinen geliebten Menschen zu lieben.
So nehme ich meinen geliebten Menschen in mein jetziges Leben hinein, er ist Teil dieses veränderten Lebens. Ich kann nun neugierig werden, wie sich das in meinem Leben auswirkt, wie mein geliebter Mensch mich begleitet und mir immer wieder entgegenkommt. So blicke ich nun offen und interessiert in das Kommende, das mein Leben sein wird. Und ich freunde mich mit meinem Leben wieder an, mit dem Wunsch, dass es bei aller bleibenden Wehmut und Sehnsucht auch freundlich sein wird.
Lassen Sie immer wieder zu, dass Ihr jetziges Leben ohne Ihren geliebten Menschen Ihnen fremd erscheint. Das zeigt Ihnen, dass Ihr Leben ein anderes geworden ist. Das ist angesichts Ihres Verlustes auch angemessen.
Überlegen Sie immer wieder, wie Sie Ihren geliebten Menschen ganz bewusst in dieses Leben hineinnehmen und ihn an Ihrem Leben teilnehmen lassen.
Spüren Sie, was in diesem so anders gewordenen Leben dennoch schön sein kann. Das können die kleinsten Dinge sein, von denen Sie sich überraschen oder erfreuen lassen.
Freunden Sie sich allmählich mit dem Leben an, das nun das Ihre ist. Sagen Sie sich: »Ja, das ist mein Leben und ich nehme es als meine Leben wieder an.«
Spüren
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