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Meine Trauer geht - und du bleibst

Titel: Meine Trauer geht - und du bleibst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Kachler
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damit Ihre Lebenssituation in den Griff zu bekommen. Sie, Frau M., leben die andere Seite: Sie drücken die Trauer offen und direkt aus. Ich glaube, dass Sie beide etwas Wichtiges tun. Es wäre allerdings gut, wenn Sie diese beiden Pole zusammenhalten und sie im Gespräch darüber bleiben. Dann könnten Sie sich auch gegenseitig in Ihrer jeweils besonderen Weise des Trauerns besser wahrnehmen und verstehen.
Jeder trauert auf seine Weise – und das ist so in Ordnung
    Jeder Mensch trauert anders. Und jeder Mensch trauert auf seine ganz spezifische Weise. Darin drückt sich seine Persönlichkeit aus, wie sie sich im Laufe seines Lebens entwickelt hat. Hier zeigt sich wieder unser Lebensskript, das auch unseren Umgang mit Gefühlen prägt. Wenn wir als Kind einen Verlust erlebt haben, haben wir sehr häufig auch ein besonderes Verlust- und Trauerskript entwickelt, das uns vorgibt, wie wir mit einem Verlust und der Trauer umgehen können und sollen. Dabei können die Verarbeitung eines Verlustes in der Kindheit und das Ergebnis in Gestalt eines Trauerskriptes sehr unterschiedlich ausfallen. Eine Frau, die ihre Mutter früh verloren hat, hat gelernt, dass Verluste zum Leben gehören und dass man damit leben kann. Sie kann dann nun als Erwachsene bewusst und aktiv mit der Trauer um ihren Mann umgehen. Ein anderer Mann, der früh seinen Vater verlor, hat für sich ein Trauerskript entwickelt, das folgende Überzeugung formuliert: »Man muss hart bleiben, auch wenn jemand stirbt. Lass dich deine Trauer nicht spüren.« Beim Tod seiner Tochter versucht er, dieses Skript anzuwenden. Doch seine Gefühle sind zu heftig, als dass sein altes Trauerskript noch anzuwenden wäre. Er selbst und damit sein Trauerskript brechen im Schmerz zusammen. Das verunsichert ihn zunächst, ist aber auch eine große Chance für ihn, weil er nun sich ganz auf seine Trauer einlassen und langfristig sein altes Trauerskript verändern kann.
    Diese Beispiele zeigen, wie unsere Lebenserfahrungen, wie unsere Persönlichkeit und unser spezifisches Trauerskript – beziehungsweise die Grenzen und Schwächen des Trauerskriptes – unsere Art des Trauerns bestimmen. Der Umgang mit einem Verlust und das Erleben unserer Trauer sind so Ausdruck unserer ganz eigenen Individualität. Jeder hat damit eine eigene Art des Trauerns und einen eigenen Trauerstil. Es wichtig, sich im Prozess des Trauerns in diesem Trauerstil kennenzulernen, um zu verstehen, was die Stärken, aber auch die Schwäche in der eigenen Art des Trauerns sind. Es gibt kein »perfektes Trauern«. In unserem Trauern sind wir so besonders, aber eben auch so verletzlich, manchmal auch so einseitig und immer so unvollkommen, wie wir als Mensch sind – und in einer schweren Verlustsituation mehr dennje. Deshalb sollten wir auch freundlich und liebevoll mit unserer Art des Trauerns umgehen. Wir haben keine andere Art und jetzt können wir auf die Schnelle auch keine andere entwickeln. Allerdings können wir uns von anderen, sei es vom Partner oder von einem anderen Familienmitglied, in unserer Art des Trauerns ergänzen und korrigieren lassen.
Trauern Männer und Frauen unterschiedlich?
    Unser Trauern ist nicht nur biografisch und persönlich, sondern auch stark kulturell geformt. In unserer Kultur haben sich dabei eine »weibliche« und eine »männliche« Weise des Trauerns herausgebildet. In einer ursprünglich männlich geprägten, patriarchalischen Gesellschaft wie der unsrigen wird das intensive und offene Trauern den Frauen zugeteilt, während das kontrollierte Zurechtkommen mit der Trauer den Männern zugewiesen wurde. Im Judentum beispielsweise sind die Klagefrauen für das offensive Trauern zuständig. Das Trauern im Christentum ist zutiefst vom Bild der Pietà, also der Maria, die trauernd ihren Sohn Jesus im Schoß hält, geprägt. Sie darf und kann ihre Trauer zeigen, vom Vater des verstorbenen Jesus ist nichts zu sehen. Er ist, wenn es um Tod und Trauer geht, der abwesende Mann, der seiner Arbeit und seinen Geschäften nachgeht und keine Zeit und keinen Raum für die Trauer hat. Trauer zu zeigen gilt als unmännlich und schwach. Trauer wurde als eigenes Gefühl abgewertet und aus dem öffentlichen Raum, der meist auch heute noch männlich besetzt ist, verdrängt. Im privaten Beziehungsraum und im Raum der Familie lebt die Frau die Trauer, während der Mann in seiner Trauer sprachlos wird und stumm bleibt. Noch immer ist es nicht selbstverständlich, dass Männer auch nach außen offen

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