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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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Ansichtskarte vom Rynek um neunzehnhundert mit Herren mit Zylinderhüten, und eine aus der NS -Zeit mit deutschen Soldaten. Nur eine knappe Woche nach der Eroberung von Auschwitz durch die Deutschen am 4. September 1939 hieß der Rynek schon »Adolf-Hitler-Platz«.
    Schneeregen fällt, löchert die schmutzigen Schneehaufen
an der Straßenseite, ein Saxophon erklingt aus dem Jazzklub Jean Miró.
    Auf dem Rynek pulsiert kein Leben, kein Tourist stapft über den Platz. Ich komme mir vor wie gestrandet. Über zwanzig Prozent der Einwohner haben Oświęcim nach der Wende verlassen. Die drei Menschen, die vorübergehen, betrachte ich, als suche ich nach Ähnlichkeit. Ein Vietnamese. Einer von den achtzehn Ausländern, die in Oświęcim wohnen. Darunter auch ein deutscher Priester, der über Rudolf Höß promoviert hat.
    Schrundig gestockte Trauer in den Mauern. Verlorene Erinnerung. Immer noch Spuren der Zerstörung, Zersiedelung, Lücken, aneinandergepappte Bauten. Rostige Häuser, die nicht mehr zusammenrücken. Spürbare Zerfallenheit. Die ursprüngliche Intimität zerstört.
    Die Auflösung einer Nazi-Goldgräberstadt. Ich weiß nicht, ob Oświęcim früher schön war, aber es war wohl stimmig, einfach, lebensnah. Es ist nicht der Verlust des Schönen, der zu betrauern ist, es ist die verlorene Vergangenheit, die in den Bauten nicht haftengeblieben ist. Der Tod einer Stadt. Hat man sie auch irgendwie aufgebaut, ihre Seele ist dahin. Sie kennt keine Tradition und weckt nur traurige Gefühle.
    Der letzte Jude in Auschwitz, Szymon Kluger, 1925 geboren, ein ehemaliger Fabrikarbeiter, ist im Jahr 2000 gestorben. Er soll nach seiner Befreiung den Rest seines Lebens geschwiegen haben. Er werkelte ein wenig, rauchte, aß und schlief, doch sein Geheimnis hielt er verborgen.
    Jeder hier weiß um Szymon Kluger. Die Geschichten über ihn sind zum Mythos geworden. Das Gegenbild eines Aufständischen, eine Legende von Ohnmacht und Verzweiflung.
    Polen leidet unter dem Verlust der Juden, sagt Paweł
und erzählt vom Künstler Rafael Betlejewski, der das als »Phantomschmerz« begreift. Betlejewski schreibt auf Warschauer Mauern immer wieder den Satz: Ich sehne mich nach dir, Jude.
    Ein paar trostlose Zementwürfel aus sozialistischen Zeiten zwischen den meist niedrigen Häusern, überragt von der wiederaufgebauten riesigen Kirche, die Autorität ausstrahlt, eine Autorität, die noch die alte Welt erfaßte und heute wirkungslos geworden ist. War sie nicht schon immer zu groß gewesen für diese kleine Gemeinde? Ich spüre für einen Augenblick, wie es gewesen sein muß, in einem geordneten, abgeschotteten und religiongelenkten Universum zu leben, in dem ein strenger Gott einem ständig über die Schulter schaut.
    Der Platz, wo einst die große Synagoge für die rund zweitausend jüdischen Bewohner stand, ist in eine Art Grünanlage umgewandelt.
    Hier begann, erzählt Paweł, im Jahr 1999 ein junger Israeli nach dem Schatz der Juden zu graben: Ehemalige Bewohner der Stadt hatten erzählt, daß die Juden die heiligen Bücher und andere wertvolle Gegenstände in zwei eisernen Kisten dort vergraben hätten, ehe die Deutschen die Synagoge verbrannten. 2004 führte eine Gruppe von Archäologen auf dem Gelände der großen Synagoge die Arbeiten fort. Man fand Gedenktafeln in hebräischer Sprache, einen liturgischen Messingleuchter, Chanukkaleuchter, Kronleuchter und ein ewiges Licht.
    Nur ein paar Meter weiter steht die hübsche Chevra Lomdei Mishnayot Synagoge, die sich im Besitz der gleichnamigen Gesellschaft befand und die vielleicht mein Großvater besuchte. Im Krieg vor der Zerstörung bewahrt, da die SS sie als Waffen- und Munitionslager benutzte, wurde sie restauriert und im Jahr 2000 wieder eröffnet.
    Das Gemeindehaus, die ehemalige Gestapo-Zentrale. Die Juden, die in Oświęcim und in den umliegenden Dörfern lebten, bildeten trotz sozialer und konfessioneller Unterschiede eine enge Gemeinde, fast eine Art Großfamilie. Talmudjuden, Chassiden und Orthodoxe, die in weißen Strümpfen, abgewetztem Rock, mit schwarzem Bart, Hut und liebevoll gekräuselten Schläfenlocken über den Marktplatz gingen, prägten die Stadt. Die Orthodoxen hatten im Gemeinderat den größten Einfluß und besuchten dreimal täglich den Gottesdienst.
    Hinein in das kleine

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