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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bronnen
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Birkenau war lang.
    Täglicher Gang über den matschigen Hof, schon an der Tür ein großer Schritt über eine der sechs Matratzen, die den ohnedies spärlichen Wohnraum einschränken. Erschreckend das abgemagerte Gesicht seiner Mutter, die zusammengesunken am gescheuerten Küchentisch sitzt, ihre müde Haltung. Auf dem Tisch leere Marmeladen
gläser, aus denen die Kinder Tee getrunken hatten, daneben ein Brotkanten.
    Nach einem Blick auf die Uhr die tägliche Routine. Wortlos zieht er die fünf Kostkinder der Reihe nach aus, weicht die Windeln in einem Topf ein, wäscht die Wäsche in der Zinkwanne, die er mit lauwarmem Wasser aus dem schwarzen Eisenofen gefüllt hat, stülpt ihnen ihre Schlafkittel über und füttert sie mit Brei. Das Zimmer stinkt, deshalb trägt er den Topf mit den Mullwindeln vor die Tür und weicht sie im Zuber ein. Dann schüttelt er den Rupfen aus, der anstelle eines Teppichs auf dem Boden liegt. Nun legt er die fünf schmächtigen Gestalten auf die drei nebeneinanderliegenden Matratzen, daneben seine Geschwister Amalie und Josef, läßt ein wenig Platz für sich selbst, betet rasch und streicht ihnen über den Kopf, glattrasiert wegen der Läuse.
    Dann holt er seinen Beutel hervor, setzt sich an den Tisch und verschanzt sich hinter seinen Schulheften.
    So könnte sein Alltag gewesen sein, jahrelang. Die einzige Möglichkeit, aus dem Elend herauszukommen, war, das Elternhaus zu verlassen. Weg von dieser Stadt, bis er sich eines Tages kaum mehr daran erinnern kann, daß er einmal in der Soła badete und auf der kleinen Insel im Fluß Grashalme kaute, im Wald Sauerklee mampfte und Bucheckern sammelte. Woanders Kieselsteine im Flußbett sammeln und über das Wasser gleiten lassen, woanders mit den Mauserfedern der Trapphähne spielen und über die grünen Wiesen hüpfen, die Felder mit ihren Furchen, und die Wolken zählen, die über das Flachland ziehen. Irgendwann einmal, damit tröstete er sich, würde er kaum mehr die Spur seiner Herkunft erkennen, wenn er sich umwendete.
    Durchatmen, weg von dieser Ordnung, weg von seinem Platz als Sohn.
    Denn hier war er Sohn, würde es für immer bleiben.
    Nichts wie weg, sobald es ging. Eines Tages, wenn er Auschwitz endlich verlassen konnte, würde er sein Geheimnis mitnehmen. Niemand sollte wissen, daß er Jude war.
    Möglicherweise hat es einen bestimmten Moment gegeben, an dem sein Geheimnis begann. Sie weiß es nicht. Aber eines weiß sie inzwischen mit Sicherheit: Hätte es so ein Erlebnis gegeben, sie hätte es nie erfahren. Hätte es nicht die »arische« Hinstilisierung in seinen Erinnerungen empfindlich gestört?
    Kurz vor Eliezers zehntem Geburtstag 1877 zogen sie nach Bielsko, weil es dort ein Gymnasium gab. Sein täglicher Fußmarsch von sechs Kilometern zwischen Auschwitz und Birkenau war gerade noch zu schaffen gewesen. Doch Bielsko war von Auschwitz nur mit dem Zug zu erreichen.
    Sie kamen ohne Habe, denn es lohnte sich nicht, die löchrigen Matten und den kaputten Tisch mitzunehmen. Eliezer hatte sieben Strohsäcke ins neue Heim geschleppt, die tagsüber wie ein gewaltiges Gebirge in der Ecke des Zimmers lagen, einen einfachen Tisch und zwei Bänke. Das am Rahmen mit Zeitungspapier abgedichtete Fenster ging auf einen dunklen Hinterhof, und schon am Nachmittag mußte er die Petroleumlampe anzünden, wenn er seine Aufgaben machen wollte.
    Mutter und er sprachen nie über Etiel, der sich davongemacht hatte. Er wußte, daß Hinde ihren Mann vermißte, er fehlte ihr nachts, er fehlte ihr tags, beim Essen und beim Kochen. Nachts, wenn er im Bett lag, überkam Eliezer trotz seiner Wut vielleicht die Sehnsucht nach dem Vater. Doch darüber schweigt er in seinen Erinnerungen.
    Verraten, ausgenutzt, seiner Kindheit beraubt, verwaist. Von der Mutter gehätscheltes Arbeitstier. Vom Vater ver
lassen. Nun sollte er ihn ersetzen, die Geschwister und Kostkinder erziehen und die Familie unterhalten.
    Bald sah es so aus, als würden sie ihr Leben in Bielsko mit seinen spärlichen Einnahmen nicht schaffen, sie hatten die Wahl »zwischen Umzug und Pfändung«. Da erfuhr Eliezer, daß er als Vorzugsschüler ein Stipendium von hundert Gulden erhalten würde.
    Wenn er Geld nach Hause brachte oder im Haushalt schuftete, bekam er ein wenig Anerkennung. Er durfte an diesem Tag seine Matratze ins Kabinett

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