Meine Väter
eine Zugehörigkeit, die keine leere Formel, sondern Vaterlandstreue war.
Mittlerweile war Rudolf von seinem Tiroler Regiment in Innsbruck wegen der Ãberzahl der Einjährigen nach Agram â Zagreb â zu einem kroatischen Jägerbataillon,
dann zur weiteren Ausbildung nach Fiume, schlieÃlich nach Essegg in Sibirien versetzt worden. Dort käme ihm alles freudlos vor, schrieb er, die weinenden, dunkel gekleideten Frauen, die schwarzen Zigeuner â er hoffe, bald hinaus an die Front zu kommen. Vor dem Gitter der serbischen Schule, in der die erste Kompanie liege, »sitzen immer massenhaft Weiber mit ihren Kindern, stundenlang, oft den ganzen Tag lang, um mit ihrem Mann ein paar Worte zu sprechen. Manche heulen ununterbrochen. Wenn so eine Marschkolonie fortgeht, werden unendliche Tränen vergossen. Keiner glaubt, daà er lebendig zurückkommt. Alles ist trübselig. Soll man's nicht auch werden? Bis jetzt bin ich's Gott sei Dank nie, denn ich hoffe auf die XI . Marschkompanie.«
Mit einem dreifachen Hurra! meldete er bald darauf seine Ernennung zum Kadetten und am 6. Juni den Abmarsch an die russische Front. Sein Regiment lag bei Kolomea am Dnjestr. Dort sollten die Russen wieder zurückgedrängt werden.
In seiner nächsten Karte berichtete Rudolf zwar von âºUnmengen gefangener Russenâ¹, die ihnen in die Hände fielen, aber er schrieb auch, er sei gleich in âºdie schönste Sauceâ¹ hineingekommen und wie er herauskommen würde, wisse er nicht.
Für seine gute Haltung bekam er vom Kompaniekommandanten eine Repetierpistole. Er hatte Fotos gemacht: drei oder vier tadellose Granataufnahmen auf hundert Schritt. Zum Schluà eine Aufnahme des eroberten Schützengrabens. Seine letzten Zeilen: Heute habe ich mich gewaschen.
Aus Kosmierzyn und Snowidow am Dnjestr kam einen Monat später eine durchweichte Karte mit den verschwommenen Zeilen eines Offiziersburschen, auf der
stand, Rudolf sei gefangen worden. Das Wort »gefangen« aber war durchgestrichen und darüber »tot« gekritzelt.
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27. Ungläubigkeit
Ferdinand saà vor der Karte, stumm. Sein Gesicht wurde bleich, es wurde weiÃ, wortlos reichte er Martha die Karte. Martha saà regungslos da, mit starrem Blick. Nein, das konnte nicht sein â eine tiefe Ungläubigkeit erfaÃte ihn, eine Empfindung der Unwirklichkeit.
Tot Ferdinands »geliebtestes Kind«, wie er in einem Gedicht zum Tod des Sohnes schreibt?
Sie klammerten sich beide an das Wort »gefangen«, das ursprünglich auf der Karte gestanden hatte: Das Chaos, das bei den Armeen herrschte, das planlose Hin und Her quer durch die Landschaft, die versprengten Leichen â konnte nicht der Kompaniekanzlei ein Irrtum unterlaufen sein?
Ferdinand wandte sich an den Stellvertreter des Generalstabschefs mit der Bitte um Auskunft, und als diese ausblieb, meldete er sich zum Erstaunen seiner Kollegen an die Front.
Er reiste nach Teschen, um persönlich nachzufragen. Die Zugfahrt verlief unter Gebeten. Er, der sonst nie betete, bat in dieser schlaflosen Nacht einen christlichen Gott um Gnade, um ein Ende dieser grausamen Prüfung. Als er in Teschen ankam, war es noch finster, eine böse Finsternis, wie sie auch in seinem Inneren herrschte.
Er hatte seinen Sohn geopfert.
Er stapfte durch den Lehmmatsch, nach wenigen Schritten waren seine FüÃe naÃ. Ein heftiger Wind bià in seine Ohren. Endlich traf er im Hauptquartier ein. Der Stellvertreter des Kompaniechefs Höfer, ein Mann um die Vierzig mit strengen Zügen, sagte ihm, sein Sohn sei ver
mutlich in russische Gefangenschaft geraten. Er nannte ihm den letzten Gefechtsort, Kosmierzyn. Ferdinand atmete auf: also gab es noch Hoffnung! Seine Suche würde belohnt!
Auf komplizierten Wegen setzte er sich mit den sibirischen Gefangenenlagern in Verbindung, mit Kameraden und Vorgesetzten Rudolfs. SchlieÃlich fuhr er hoffnungsvoll nach Essegg. Die Reise war qualvoll lang, durch Wälder, langgezogene sibirische Ebenen und leere Städte, doch vergebens. Niemand wuÃte etwas.
Auf der Rückfahrt spürte er, wie wenig er die Situation unter Kontrolle hatte, und geriet in eine tiefe Verstörtheit. Er vergaà zu essen und blickte ins Leere. Als ihm an der Tür Martha entgegenkam, erkannte er sie kaum. Alles war fremd. Als er schlieÃlich von einem Kameraden Rudolfs einen Brief erhielt, mit dem all seine Hoffnungen
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