Meine Wut ist jung
der ich den Feuersturm im Februar 1945 als 12-Jähriger erlebt oder besser gesagt überlebt habe. Das war der Einbruch des Krieges in ein bis dahin relativ behütetes Leben - ein Schock, der mir bewusst machte, wozu die Nazibarbarei geführt hatte.
Im Westen ist dieser Teil der deutschen Geschichte erst nach und nach verarbeitet worden. Bis in die 1970er-Jahre hinein waren wir einem Druck ausgesetzt, nun endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Das hat sich geändert: Die offene und selbstkritische Art, wie wir mit diesem Teil unserer Vergangenheit noch immer intensiv umgehen, kräftigt unsere Demokratie. Heute ist die Zahl derjenigen, die einen Schlussstrich ablehnen auf 56 Prozent der Befragten gewachsen, bei den 18- bis 29-Jährigen sind es sogar 65 Prozent.
In der früheren DDR fand diese intensive Aufarbeitung staatlicherseits nicht statt. Im Gegenteil: Das Regime schob die Verantwortung dem faschistischen Westen in die Schuhe, von dem es sich in dieser Frage abzugrenzen versuchte. Dies ist sicher eine der Ursachen für die Verführbarkeit heute gerade junger Menschen im östlichen Teil Deutschlands zu rechtsextremem Gedankengut. In vielen Familien und auch in Schulen hatte zu DDR-Zeiten diese deutsche Vergangenheit keine Rolle gespielt. Als ich mich während meines Vortrags in Dresden in dieser Weise äußerte, ging ein Murren durch den Saal. Anschließend kamen einige Zuhörer auf mich zu. Sie zeigten sich empfindlich getroffen und wiesen darauf hin, dass in ihren Familien die Nazi-Vergangenheit durchaus ein Thema war. An meinem Gesamtbefund ändert das aber nichts.
Warum ist die Menschenwürde immer noch eine Herausforderung für Staat und Gesellschaft? Wir leben heute doch in einer gefestigten Demokratie.
Und dazu in einer »geglückten Demokratie«, wie der Zeithistoriker Edgar Wolfrum es ausdrückt. Ich meine, zu Recht. Zum ersten Mal leben die Deutschen in einer freiheitlichen Ordnung, die sie sich nach 1945 zwar nicht selbst erkämpft, aber aufgebaut haben. Die Bürger der früheren DDR haben sich 1989 die Freiheit allerdings selbst erkämpft. Es war die einzige erfolgreiche Freiheitsrevolution in der deutschen Geschichte. Unsere Demokratie ist zwar Gefährdungen ausgesetzt, die manchen Schaden anrichten, ist in ihrem Grundbestand aber nicht bedroht.
Um welche Gefährdungen handelt es sich?
Ich zähle einige auf: In meinem Buch »Rettet die Grundrechte« habe ich mich ausführlich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Bürgerfreiheit und Sicherheitswahn beschäftigt. Auch heute gibt es keinen Anlass zur Entwarnung.
Die Tendenzen zur Aushöhlung und Entleerung der Demokratie hier im Land und vor allem auch im Zusammenhang mit der dynamischen Entwicklung Europas haben sich verstärkt. Das schwindende Vertrauen der Deutschen gegenüber Politikern ist eine Krise der »repräsentativen Demokratie«.
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus sind schwerwiegende Herausforderungen, aber der Linksextremismus sollte auch nicht unterschätzt werden.
In der Internetrevolution dürfen wir nicht nur Chancen sehen, sondern auch die Gefahren für die Freiheit.
Weltweit wird die Menschenwürde immer wieder verletzt. Unser Grundgesetz verpflichtet uns zu einer Außenpolitik, die sich an den Menschenrechten orientiert.
Der »deutsche Obrigkeitsstaat«, sagt der Journalist Christian Bommarius in einer lesenswerten Biografie des Grundgesetzes, »ist mit dem Grundgesetz beseitigt worden«. Was keine Revolution in Deutschland zustande gebracht hatte, haben die Verfasser des Grundgesetzes geschafft. Sie haben die Legitimation des Staates an eine sittliche Idee gebunden und dieses in einem einzigen Satz zum Ausdruck gebracht: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Das ist die zentrale Botschaft unseres Grundgesetzes, die Idee der Menschenwürde überwölbt das ganze Grundgesetz. Bommarius nennt das eine »kopernikanische Wende« im deutschen Staatsverständnis. Diese Grundrechte gelten nicht nur für die Deutschen, sondern für alle hier lebenden Menschen. Es sind vorstaatliche, »natürliche« Rechte, die jedermann zustehen und auf die niemand verzichten kann. Sie sind anders als in früheren Verfassungen nicht nur gut gemeinte Absichtserklärungen, sondern einklagbares, bindendes Recht. Die Verfassung reagiert damit auf das Versagen der Weimarer Republik und vor allem auf die Barbarei, die danach folgte. »Der Staat beherrscht nicht nur durch das Recht, er wird selbst von den
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