Meine Wut ist jung
ohne Zögern in einem vermeintlichen Sicherheitsinteresse beschlossen - und zwar ohne Augenmaß. Im Wirtschafts- und Finanzbereich dagegen hat der Staat lange darauf verzichtet - wie wir im Moment schmerzhaft erfahren. Für viele Millionen Menschen werden Arbeitsplatz- und Vermögensverluste die Folge sein. Der Markt hat es eben nicht gerichtet. Er war zu weitgehend sich selbst und der Gier verantwortungsloser Finanzjongleure überlassen. Interessanterweise vertrat bereits in den 1930er-Jahren der Publizist Sebastian Haffner die Meinung, dass der Nationalsozialismus nicht zuletzt deshalb entstanden ist, weil »eine ganze Generation von Deutschen mit dem Geschenk eines freien privaten Lebens nichts anzufangen wusste«.
Könnte unser Grundrechtsverständnis für Europa richtungsweisend sein oder könnte es im Zuge des europäischen Integrationsprozesses eingeschränkt werden?
Diese Gefahr ist durchaus gegeben. So hat sich der Bundesverfassungsrichter Johannes Masing kürzlich mit einer alarmierenden Analyse zu Wort gemeldet und sagte: »Die europäische Grundrechtecharta trägt nicht so weit wie unsere Grundrechte.« Schlimmstenfalls kann es also passieren, dass Positionen des Verfassungsgerichts durch Entscheidungen auf europäischer Ebene obsolet werden. An dessen Stelle tritt der Europäische Gerichtshof, dessen Grundrechtsverständnis heute noch nicht einzuschätzen ist. Das Spannungsverhältnis zwischen deutschem und europäischem Recht ist bisher nicht offen zutage getreten, aber es ist vorhanden. Wird von der EU - wie jetzt im Datenschutz beabsichtigt - das Instrument der »Verordnung« benutzt, dann hat das Bundesverfassungsgericht keine Kompetenzen mehr. »Verordnung« bedeutet unmittelbar geltendes Recht in den Mitgliedstaaten.
Ich wünsche mir eine Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses. Dann müssen wir aber alles tun, um auf europäischer Ebene ein wachsendes Bewusstsein für Grundrechtsschutz herbeizuführen. Viele werden das für unerreichbar halten, eine Alternative dazu gibt es aber nicht. Wir müssen versuchen, in den anderen Staaten Verbündete zu finden, die so denken wie wir und die dann auch ihre Stimme erheben.
Brüssel und das Europäische Parlament sind zu weit weg vom Bewusstsein der Menschen. Wir müssen, was Jürgen Habermas ja immer fordert, eine neue, die Politik kontrollierende demokratische Öffentlichkeit in ganz Europa herstellen. Dazu brauchen wir Verbindungen zwischen den Zivilgesellschaften unserer europäischen Länder, die dann Themen wie Vorratsdatenspeicherung, ACTA und Reform des europäischen Datenschutzrechts gemeinsam aufgreifen müssen.
Wie steht es mit den demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten im Prozess der europäischen Einigung?
Eine Demokratieentleerung droht der Europäischen Union in der schwersten Krise seit ihrem Bestehen. Nur langsam finden die verantwortlichen Politiker einen Weg aus der Gefahr eines Zusammenbruchs hin zu Schuldenabbau, zur Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit und zur Bändigung des Weltfinanzsystems. Deutschland kann sich seiner Verantwortung nicht entziehen. In der Krise steckt aber auch die Chance für einen neuen Anfang. Die Idee Europa ist nicht nur ein wirtschaftliches, sondern vor allen Dingen ein politisches Projekt. Europa ist eine Wertegemeinschaft und diese muss stark genug sein, um bei einer Lösung der globalen Probleme mitreden zu können. Europa muss sich neu verfassen und das ist nur möglich, wenn dem Volk, den Völkern Europas, ihren Bürgern und Parlamenten stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Bisher handeln vor allem die Regierungen. Europa darf nicht zu einem Projekt der Eliten verkümmern.
In diesem Zusammenhang sind auch die erheblichen verfassungsrechtlichen Probleme zu nennen, die sich durch Kompetenzverlagerung nach Brüssel, insbesondere im Bereich der Budgethoheit, für unser Land ergeben. Man wird sich auf den Weg machen müssen, um die demokratische Kontrolle in Europa auszubauen. Ich denke etwa an die Direktwahl des Kommissionspräsidenten, an umfassende Kompetenzen eines europäischen Finanzministers und an eine deutliche Verstärkung der Rechte des Europäischen Parlaments. Ob das deutsche Volk über das ganze Grundgesetz abstimmen muss, um an einer neuen europäischen Verfassungsordnung teilnehmen zu können, sollte sehr sorgfältig geprüft werden. Das Grundgesetz sieht bereits einschneidende Souveränitatsverluste vor, etwa dann, wenn der UN-Sicherheitsrat über Krieg und
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