Meine Wut ist jung
Grundrechten beherrscht«, so Bommarius. Und der große niederländische Philosoph Spinoza sagte 1670: »Der Zweck des Staates ist danach allein der Mensch, der Zweck des Staates ist die Freiheit.« Beide Zitate zielen auf den unvergleichlichen Wert eines jeden Menschen - ein Gedanke wie er schon bei den Stoikern und vor allen Dingen in der Aufklärung u.a. bei Kant entwickelt worden ist. Er mündet in die beiden Grundpfeiler moderner Demokratien: in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und in die Verfassung der Französischen Revolution von 1789. Der Philosoph Jürgen Habermas drückt den Gedanken besonders trefflich aus: »Die Menschenwürde bildet das Portal, durch das der egalitär-universalistische Gehalt der Moral ins Recht transportiert wird.« Er erinnert auch an die »philosophische Aneignung von Motiven und Denkfiguren der christlichen jüdischen Überlieferung« und an die »Gottesebenbildlichkeit« des Menschen. In einer früheren Entwurfsfassung von Artikel 1 des Grundgesetzes hieß es übrigens: »Der Mensch ist nicht um des Staates willen da, sondern der Staat um des Menschen willen.«
Es gibt in der deutschen Staatsrechtslehre eine Minderheitsmeinung, die allerdings nicht unterschätzt werden darf. Sie will den Menschenwürdeschutz abhängig machen von der jeweiligen Situation und von den konkreten Umständen. So wird behauptet: Das Grundgesetz ist für den terroristischen Ernstfall nicht gerüstet. Man sollte eine Güterabwägung vornehmen, und in bestimmten Situationen sei eine »rechtsstaatlich domestizierte« Folter durchaus vertretbar. Aber Folter lässt sich nicht domestizieren! Verfassung, Verfassungsrechtsprechung und auch das Völkerrecht lassen daran keinen Zweifel.
Sogar ein sogenannter Ausnahmezustand rechtfertigt nicht die Abweichung von den fundamentalen Prinzipien der Menschenwürde. Auch nicht ein sogenanntes Feindstrafrecht. Diese von mir kritisierte Rechtsposition erinnert mich an die unheilvolle Lehre des wichtigsten Kronjuristen des Dritten Reiches, Carl Schmitt. Statt Menschenwürde hieß es damals: »Recht ist, was dem Volk nützt« und »der Führer schützt das Recht«. Zum Beispiel rechtfertigte Schmitt die Röhm-Morde mit dem Hinweis: »Der Führer ist das Recht.« Juristischer Ausgangspunkt seiner Überlegung war die Konstruktion eines Ausnahmezustandes. Auch wenn kein ernsthafter Wissenschaftler heute so weit gehen würde wie Schmitt, ein Ausnahmezustand wird heute aber auch in der Bedrohung durch den Terrorismus gesehen. Terroristen, die sich nach dieser Rechtsansicht außerhalb der Rechtsordnung ansiedeln, sollten auch nicht deren Schutz genießen. Mit dieser Rechtsauffassung gerät man in die Nähe der von den USA verfolgten Strategie: Die Verfolgung des Terrorismus ist Krieg und nicht Verbrechensbekämpfung.
Es muss uns beunruhigen, dass in kritischen Situationen Teile der Bevölkerung für eine Relativierung des Schutzes der Menschenwürde anfällig sind. In dem Entführungsfall eines Frankfurter Bankier-Sohnes haben zum Beispiel 61 Prozent der Befragten Rettungsfolter befürwortet. Während der Entführung von Hanns Martin Schleyer im Jahre 1977 sprachen sich mehr als 70 Prozent der Befragten für die Todesstrafe für die RAF-Mörder aus. Was werden wir möglicherweise erleben, wenn tatsächlich in unserem Land durch einen Terroranschlag Menschen getötet werden sollten? Sind wir dann bereit, zu unserer Verfassung zu stehen? Angesichts der terroristischen Bedrohung durch die RAF hatte Habermas bereits im Jahre 1978 voll Sorge angemerkt: »Es besteht heute die Gefahr, dass Carl Schmitts Theorie der innerstaatlichen Feinderklärung zur Routine wird.«
Ich fordere seit Langem eine Bürgerbewegung gegen die Gefährdung unserer Grundrechte. Warum schweigen sich eigentlich diejenigen aus, die sich sonst bei jeder Gelegenheit zu Wort melden? Wird denn nicht gesehen, dass hier mit einer gewissen Lust der Ausnahmezustand diskutiert und Angstszenarien inszeniert werden? Eine Debatte darüber, dass jede Gesellschaft grundsätzlich mit Risiken leben muss, wird nicht geführt. Aber gerade eine solche Debatte ist unverzichtbar, wenn es nicht im Falle eines Anschlages unter dem Druck einer durch Populismus aufgewühlten öffentlichen Meinung zu kopflosen Entscheidungen kommen soll.
Sicherheit in allen Lebensbereichen ist zu einem überzeichneten Leitbild geworden. Der Staat folgt diesem Bedürfnis in unterschiedlicher Weise. Zahlreiche Reglementierungen werden
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