Meine Wut rettet mich
andere auf die chilenische Botschaft, offenbar Anschläge von Anarchisten. Ein großes Leid, nur weil andere, aus Wut über die Herrschaft anderer, sich nun selbst die Macht herausnahmen, über Menschen zu herrschen mittels brutaler Gewalt. Ein zweiter Anlass war, dass Rom ebenfalls in dieser Zeit einen ganzen Tag lahmgelegt war durch Studenten, die gegen, ihrer Meinung nach, ungerechte Studiengebühren demonstrierten. In der Sache kann ich nicht urteilen und man mag ja Verständnis aufbringen, wenn die Gesetze wirklich ungerecht sind. Was mich stört, ist generell diese Unruhe in unserer Welt, diese Unzufriedenheit, die oft in Gewalt mündet. Man will andere beherrschen, weil man sich selbst beherrscht fühlt. Meine Predigt richtete sich gegen Gewalt und gegen Herrschaft. Jede Revolution frisst ihre Kinder, Gewalt wird immer mit Gewalt beantwortet, es sei denn, man folgt dem Wort Gottes und geht den Weg der Menschwerdung, auf dem der Mensch wirklich Mensch wird: solidarisch mit dem anderen, mit den Armen, auf Gewalt verzichtend. Ich gehe bei Predigten meistens und besonders bei solchen Feiern von konkreten Ereignissen aus. Es spielte auch noch eine Rolle, dass ich gerade am Heiligen Abend zwei Briefe beantwortet habe, die ich ein paar Mal in die Hand genommen und dann wieder weggelegt hatte. Beide Briefe handelten von der Angst. Ein Briefschreiber beschrieb, wie sehr er sich vor seiner Krankheit und vor dem Tod fürchtet. Ich habe versucht, ihm aus dem Weihnachtsgeheimnis heraus Trost zu spenden. All solche Dinge, die auf einem selbst lasten, ergeben zusammen mit dem Nachdenken über Jesu Botschaft die Predigt.
Dies alles hat viel mit Führung und Führungsstil zu tun, ein Thema, mit dem Sie sich auch in Büchern und Vorträgen oft befassen. Hier an der päpstlichen Hochschule in Sant’ Anselmo studieren junge Menschen aus aller Welt. Sie sind begierig zu lernen, aber auch begierig auf Macht.
Ich erinnere mich gut an einen orthodoxen Studenten, der kurz nach seiner Hochzeit hierher nach Rom kam. Er stammte aus Moskau und musste dort seine Frau zurücklassen. Das stimmte ihn sehr traurig, ich habe ihn zweimal hier aufgefischt, er war am Zusammenbrechen. Ich riet ihm, zu Weihnachten seine Frau einzuladen, sie könne zwar nicht hier wohnen, aber wir könnten gemeinsam essen. Dieser Vorschlag hat ihn unheimlich glücklich gemacht, auch weil er sich einen solchen Vorschlag von einem Mönch nicht vorstellen konnte. An Ostern sah ich ihn wieder traurig in einer Ecke stehen und tröstete ihn: Im Sommer werde er geweiht, sei dann Diakon und Priester. Als ich die Titel erwähnte, strahlte er. Ich musste ihn auf den Boden holen: »Nicht, dass du meinst, diese Bezeichnungen sind etwas für dich als Person, sie dienen dazu, dass du entsprechend Dienst an der Gemeinde tust«, sagte ich. Er schaute verdutzt, begann »Ja, aber …«. Ich unterbrach ihn: »Nichts aber, ich bin hier auch nur im Dienst.« – »Nun, aber Sie sind doch der höchste Benediktiner, der wichtigste Mann im Orden.« – »Der Pförtner und der Koch sind wichtiger, ich stehe im Hintergrund.« – »Ja, aber brauchen wir nicht so etwas wie eine Pyramide in der Kirche, eine Hierarchie von oben nach unten?« – »Lies die Texte der Heiligen Schrift, dann wirst du wohl eine solche Pyramide erkennen. Doch die steht auf dem Kopf.«
Sie selbst haben Macht aufgrund Ihrer Funktion.
Durch die Funktion gibt es Autorität. Aber Autorität bedeutet noch keine Macht. Wenn ich meine Autorität ausübe, habe ich, wenn ich der Regel Benedikts folge, immer auch die Pflicht, die anderen zu integrieren. Die Regel sagt: Bei allen wichtigen Fragen rufe der Abt sämtliche Brüder zusammen und berate sich mit ihnen. Und ich sage sämtliche, weil Gott oft den jüngeren eingibt, was das Bessere ist. Das ist für mich Macht. Macht, die mit anderen geteilt wird. Niemals Macht über andere. Natürlich trage ich Verantwortung. Aber das hat nichts zu tun mit dem gängigen Verständnis, wonach Macht immer auch Herrschaft bedeutet sowie den Willen, Einfluss zu nehmen. Man sagt mir oft, ich müsse zum Heiligen Vater gehen und ihn da und dort beeinflussen. Ich widerspreche. Das wäre Machtausübung, und dies ist mir zuwider. Das entspricht nicht meinem Glaubensbild. Mein Auftrag ist zu dienen, nicht zu herrschen.
Für Sie ist Macht eindeutig negativ besetzt.
Ja.
Autorität hingegen ist für Sie ein positiver Begriff.
Ja. Macht und Autorität sind zwei Paar Stiefel.
Hat die durch
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