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Meine Wut rettet mich

Meine Wut rettet mich

Titel: Meine Wut rettet mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlis Prinzing
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Weihnachten verteilte der Pfarrer an jeden, der sich noch nicht ganz perfekt bewegte, Kopfnüsse mit dem Mittelfingerknochen, von denen einem offenbar ein paar Tage lang der Schädel wehtat. »Holy Horror Picture Show« taufte Brummer dies: Ihm gefiel die Inszenierung der Hochämter sehr, aber diese Züchtigung empfand er als Horror. Sein Vater war damals Mitglied im Pfarrgemeinderat und beschwerte sich. Doch der Pfarrer fand, wer solche »Ordnungs-Maßnahmen« nicht ertrage, könne sonntags nicht mehr ministrieren, teilte Arnd für die 6.45-Uhr-Messen am Werktag ein und vertrieb ihn so letztlich. Arnd ministrierte nicht mehr, blieb aber engagiert, beispielsweise indem er eine katholische Jugendgruppe leitete.
    In den Siebzigerjahren, gegen Ende von Arnds Schulzeit, war klar geworden: Die durch das Vatikanum möglich gewordene Öffnung der Kirche erfolgte allenfalls in kleinen Schritten. Die Schule hatte zudem seine Lust auf ein Studium, ob Theologie oder ein anderes Fach, völlig abgekühlt. In der Schule hatten ihn viele Lehrer genervt, weil sie sich an Lehrplänen orientierten statt am Bildungshunger und weil sie die Anpasser schätzten, statt kritische Geister zu fördern. Er befürchtete, dies wäre an einer Hochschule nicht wirklich anders, und sah beruflich zwei Möglichkeiten für sich: Regieassistent oder Journalist. Er entschied sich für ein Volontariat beim Schwarzwälder Boten , in der Redaktion in Nagold im Schwarzwald, arbeitete danach als Kultur- und Politikredakteur für mehrere Tageszeitungen, leitete eine Radiostation und ging 1987 als Korrespondent im Themenfeld der Außen-, Verteidigungs- und Gesellschaftspolitik nach Bonn.
    Sein »Glaubens-Werdegang« verlief weiterhin durchwachsen, auch in der Schule. Es gebe keine Doppelberufung, behauptete sein Religionslehrer, ein Pater. Wer genügend bete, erkenne seine Berufung – entweder die zum Priestertum oder die zum Ehemann und Vater. Arnd widersprach, man könne auch zu beidem berufen sein, und flog aus dem Klassenzimmer. Zu Hause erzählte er den Vorfall seiner Mutter, die als Mitglied des Vorstands im Frauenbund den Pater gut kannte. Sie brach in Tränen aus. Irgendwann erzählte sie: Alle wüssten, dass der Pater ein Verhältnis mit einer Vorstandskollegin hatte. Der Pater habe vermutlich seine Widerrede so aufgefasst, dass sein Schüler ihn nun bewusst vor allen vorführen wollte, weil ihm seine Mutter diese Affäre verraten hatte. Nun begriff er. Beziehungsweise erst recht nicht. »Da sind doch alle Beteiligten Opfer einer seltsamen Haltung der katholischen Kirche«, sagt er. Ihm sei schon damals schleierhaft gewesen, wie das im Sinne von Jesus sein könne.
    Die mehr oder weniger mit dem Zölibat verbundene Doppelmoral im Alltag vergrößerte Schritt für Schritt seine theologische Distanz zur katholischen Kirche – all die Geschichten von Geistlichen, die im Verborgenen Verhältnisse mit Frauen oder mit Männern hatten oder die in einer entfernten Stadt ein Parallelleben führten und nur noch zu Pflichtauftritten in ihren Gemeinden auftauchten. Aber auch Geschichten über Missstände, die mit Lügen oder Schweigen überdeckt wurden. Etwa jene eines Präfekten in einem nahe gelegenen Lehrlingsheim, den man angeblich wegen angeschlagener Gesundheit überraschend anderswohin versetzte. Die Lehrlinge hingegen erzählten, der tatsächliche Grund sei wohl, dass er sich an etlichen Jungen zu schaffen gemacht und sie zu sexuellen Handlungen gezwungen habe.
    Mit Anfang zwanzig hatte Arnd Brummer für seinen Geschmack genug gesehen und gehört. Als es in Stuttgart, wo er seine journalistische Karriere fortsetzte, an der Haustür seiner neuen Wohnung klingelte und der Pfarrer ihn willkommen heißen wollte, wies Brummer ihn ab. Er wolle ohnehin aus der katholischen Kirche austreten. Ein paar Minuten später saßen beide in Brummers Wohnzimmer, tranken Wein und diskutierten. Am Ende des Abends hatte ihn der Pfarrer durch seinen »Don Camillo«-Stil (Originalton Brummer) so weit, dass er nicht nur Mitglied blieb, sondern gleich auch für den Kirchenvorstand kandidierte. Er hatte ihm klargemacht, dass man in seiner katholischen Gemeinde Leute wie Brummer dringend brauche, um etwas zu verändern. Dieser Pfarrer handelte selbst sozusagen als Vorbild, erzählt Brummer: Zum Beispiel lud er Protestanten zum Abendmahl ein, obwohl er damit rechnen musste, deswegen zum Bischof zitiert zu werden. Brummer war beeindruckt. Das verstärkte sich noch, weil dieser

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