Meine Wut rettet mich
abschalten können? Wo immer Sie hinkommen, sprechen Leute Sie an – als Bürgerrechtler oder als Pfarrer oder als Experte für fast alle Probleme.
Wenn ein Mensch in der Öffentlichkeit steht wie ich seit 1989, dann projizieren viele in ihn allerhand Erwartungen. Wenn ich ein paar Tage weg bin, stapelt sich die Post, wenn ich nicht sofort antworte, folgen Beschwerden, weshalb ich noch nicht geantwortet habe, oder Beschwerden, warum ich da oder dort nicht hingekommen sei. Und wenn ich irgendwo auftauche, gibt es stets auch welche, die finden, da ist wieder der unvermeidliche Schorlemmer. Ja, wirklich so: der unvermeidliche Schorlemmer. Hat man eine gewisse Prominenz, wird man mit Erwartungen überrannt.
Wann haben Sie sich das letzte Mal politisch engagiert?
Heute Morgen. Da habe ich ein Interview gegeben über den Papst und über die Funktion von Christen in der Gesellschaft. Das ist für mich politisch. Der Papstbesuch im September 2011 hat mich sehr empört. Autobahnen wurden für die Besucher gesperrt, Busse kamen aus der ganzen Bundesrepublik, das Ereignis sollte ganz groß aussehen. Und dann kam nichts als Schall und Weihrauch. Ich bin empört, und zwar nicht über die Katholiken, sondern über den Papst. Ich verstehe mich als Teil der universalen Kirche, in der Christen sich in unterschiedlichen Gemeinschaften und Traditionen versammeln; dazu gehört auch die katholische Kirche, sie ist also Teil der Kirche, zu der ich gehöre.
Sind wir also dann auch »alle Papst«, wie die Bild -Zeitung einmal titelte?
Ja, wir sind Papst. Auch Benedikt XVI. ist Papst. Aber er ist nicht unser aller Papst. Wir sind gleichwertig. Wir sind mündig. Jeder ist groß, nur anders groß. Wir sind Menschen und wir sind durch die Taufe geadelt. Wir brauchen keine aus einer katholischen Konstruktion mit noch höheren und niedrigeren Weihen versehenen Positionen. Es kann somit auch keinen »Heiligen Vater« geben. Was sollte das heißen? Es ist so vieles absurd.
Was zum Beispiel noch?
Ich kann nicht einerseits das Loblied auf die Vernunft, die Aufklärung und die griechische Philosophie singen und gleichzeitig um Gebeine der Heiligen Könige in Köln herumlaufen und Ablass erwarten. Das ist absurd. Die Heiligen Drei Könige gibt es nicht wirklich, sie sind aber als theologische Konstruktion für den Glauben wichtig. Ich kann diese Konstruktion annehmen im Glauben. Aber bin ich einer Kirche treu, die für mich entscheidet, was zu glauben ist? Dem folge ich und schalte da die Vernunft aus? Genau deshalb ist es absurd, wenn man in Köln Gebeine hinlegt, als habe es diese Könige wirklich gegeben. Das ist christianisiertes Heidentum und das ist religiöser Volksbetrug.
Für seine Rede, die der Papst am 22. September 2011 im Deutschen Bundestag als Vertreter des Heiligen Stuhls und damit als Partner in der Völker- und Staatengemeinschaft hielt, lobten ihn auch sozialdemokratische und grüne Politiker – für den philosophisch-theologischen Gehalt und die Gedanken zum freiheitlichen Rechtsstaat. Wie gefiel Ihnen die Rede?
Ich habe mich aufgeregt. Er führte von der Philosophie der Antike durch das christliche Mittelalter direkt in die Zeit der Aufklärung und ließ die Reformation komplett raus. Das geht doch nicht! Als wäre nichts gewesen! Das regt mich ganz besonders auf. Ja, und dann beansprucht er die Vernunft, verweist auf die Menschenrechte, unterschlägt aber, dass diese eben nicht das Produkt der Kirchen waren, wiewohl dies dem christlichen Menschenbild eigentlich entsprochen hätte, sondern auch gegen die Kirchen durchgesetzt werden mussten. Er war noch nicht mal in der Lage zu einem »mea culpa«, zu einem Schuldeingeständnis, das gerade einem Christen gut anstünde.
Sie sprechen von Aufregung, Sie zeigen Ihre Wut. Diese Wut müssten doch viele Christen haben. Warum ist das nicht so? Müssten nicht vor allen Dingen die Protestanten ein regelrechtes Wutchristentum ausleben?
Da bin ich anderer Meinung. Ich vermisse vor allem die Wut meiner katholischen Freunde. Sie stellen zwar Fragen. Der Bundespräsident stellte Fragen, auch der Bundestagspräsident. Doch der Papst antwortet einfach nicht. Da hätten sie nachhaken müssen, machten sie aber nicht. Der Papst beschrieb zwar nun in kleiner Runde Luther immerhin als einen Menschen, der mit sich und Gott gerungen hat. Aber das ist zu wenig. Wo blieb die Freiheit? Nach diesem Gespräch mit den Protestanten gab es noch nicht mal eine offizielle Erklärung. Und in den großen,
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