Meine Wut rettet mich
Menschen darin zu glauben, und schwor sie zugleich strikt ein auf seine Institution, auf die römisch-katholische Kirche. Dabei müssten wir Christen uns längst zu einer Einheit in Vielfalt versöhnen, wie dies dem Geist Christi entspricht. Das sind wir der Welt schuldig. Die christliche Kirche muss Sammelplatz der Beunruhigten sein, derer, die sich durch das Evangelium justieren und ermutigen lassen, die in die Welt gehen, etwas erreichen, auch mal scheitern und sich dann wieder sammeln in der Kirche als dem Ort, aus dem sie ihre Kraft schöpfen.
Wie schöpft man diese Kraft?
Stellen Sie sich vor, Sie hören das Vorspiel Johann Sebastian Bachs zum Lied »Wer nur den lieben Gott lässt walten«, dann singen Sie das Lied zusammen mit der Gemeinde im Gottesdienst. Dabei kriegt man eine unglaubliche Kraftzufuhr. Und wenn dann noch eine ordentliche Predigt dazukommt! Ja, so muss es sein! Johann Baptist Metz 79 , ein katholischer Theologe während der Konzilszeit, sprach von »der gefährlichen und befreienden Erinnerung« biblischer Geschichten. Sie sind eine gefährliche Erinnerung, weil sie daran erinnern, wie die damals, also in biblischer Zeit gegenwärtige Welt des Augustus infrage gestellt wurde. Und eine befreiende, weil sie den Menschen zeigen, wie sie sich von ihren selbstbezogenen Interessen befreien und einer selbstlosen Menschlichkeit zuwenden können. Genau das führt dann auf die Weihnachtsgeschichte, auf die Geburt Jesu.
Biblische Geschichten auf die Gegenwart zu übertragen, liefert immer wieder Stoff für Konflikte. Wie soll man die Bibel gebrauchen?
Diesen Streit um den Gebrauch der Bibel muss es geben und man kann durchaus hinterfragen, wie ich die Bibel gebrauche. Ich nannte Gorbatschow in einer Predigt mal den »Kyros aus dem Osten«, verglich ihn also mit dem Perserkönig, der das jüdische Volk nach langer Knechtschaft dann doch endlich ziehen ließ. Das war 1987, also zwei Jahre vor der Wende, als noch keiner ahnte, dass dies Gorbatschow je tatsächlich ermöglichen würde. Ich erhielt daraufhin einen scharfen Brief von einem Oberkirchenrat aus Sachsen, der mir vorwarf, biblische Texte zu verhunzen. Ich überlegte: Hatte ich wirklich zu sehr aktualisiert? Ich finde grundsätzlich: Menschen, die in den Gottesdienst kommen, wollen keine theologischen Vorlesungen, sondern sie wollen wissen, was die Bibel ihnen konkret zu sagen hat. Sie wollen die alten Geschichten hören, aber erfahren, welche Relevanz in ihnen steckt für Fragen, die uns heute bewegen.
Auf welche aktuelle Frage würden Sie jetzt in der Bibel nach einer Antwort suchen, zum Beispiel für eine Predigt?
Warum kriegen heute nur noch so wenige Leute Kinder? Wir werden ja nicht nur älter, sondern bekommen auch weniger Kinder, und zugleich heißt es, wir haben zu viele Ausländer. Diese Frage muss uns doch aufregen. Immer wenn mich etwas umtreibt oder aufregt, dann schaue ich, ob ich dazu in der Heiligen Schrift Antworten finde.
Was ist Ihr Motor: die Bibel oder die lutherische Grundhaltung, sich einzumischen?
Beides: Die Bibel ist für mich eine grundlegende Orientierungsbasis, Altes und Neues Testament. Und zwar unter einem Gesichtspunkt, den Luther schön formulierte: Man muss, wenn man einen Bibeltext liest, unterscheiden und auswählen: Passt das zu Jesus – »was Christum treibet«? Passt es zu seiner Botschaft, zu seiner Person, seinem Geschick, seiner Hoffnung, seiner Art, mit Menschen umzugehen? Was da nicht stimmig ist, lasse ich beiseite. Die Bibel ist für mich nicht Heilige Schrift in dem Sinne: Das alles ist Gottes Wort. Mir geht es darum, das, was da steht, und das, was drinsteckt, zu erkennen und zu differenzieren.
Hat jeder Theologe die Pflicht, sich in politische Fragen einzumischen?
Ja.
Ohne Einschränkung?
Er darf nie vergessen, dass er als Theologe nicht Partei für eine politische Richtung ergreift und sich auf sie festlegt – weder auf die liberale noch auf die christlich-konservative noch auf die grüne noch auf die sozialdemokratische. Er muss klar Position beziehen, aber nicht in den Geruch kommen, parteipolitisch zu sein. Das prophetische Zeugnis Jesu muss in seiner Haltung erkennbar bleiben. Er darf nie vergessen, sich neben dem Politischen auch in existenziellen und spirituellen Fragen einzubringen. Bruder Roger von Taizé brachte dies auf die Formel »Kampf und Kontemplation« 80 .
In der ehemaligen DDR sowie auch noch im »Demokratischen Aufbruch« während der Wiedervereinigung waren viele
Weitere Kostenlose Bücher