Meine zwei Halbzeiten
er. Ich überlegte fieberhaft: War das eine Fangfrage? Hatte man während des Trainings meine Sachen durchsucht? Festgestellt,
dass ich so gut wie keine Dinare mehr besaß? Was sollte ich antworten, damit Petersdorf nicht argwöhnisch wurde, sich später
nicht darüber wunderte, dass ich nichts einkaufen würde? Ich musste es darauf ankommen lassen.
«Ich werde mich nur umschauen», sagte ich. «Mein Geld möchte ich einem Bekannten geben, der bald längere Zeit in Belgrad tätig
sein wird. Er ist Musikfan wie ich und soll in Ruhe einige Platten für mich ausfindig machen.»
Das war zum Teil nicht einmal gelogen. Jeder wusste, dass ich ein Musikfreak war, wenn vielleicht auch nicht gerade Petersdorf
– aber er schien sich mit meiner Erklärung zufriedenzugeben. Jedenfalls hakte er nicht weiter nach. Später, befragt über meine
Flucht, machte er nur eine einzige Aussage: Ihm sei aufgefallen, dass ich kein Geld ausgegeben hätte.
In den nächsten zwei Stunden wurde der Programmpunkt «Stadtspaziergang» abgehakt. Das hieß: mit der ganzen Truppe |15| rein in ein Kaufhaus und mit der ganzen Truppe wieder raus aus dem Kaufhaus. Im Alleingang durch die Straßen zu gehen oder
etwas zu besichtigen – das wäre in dieser politisch heißen Zeit nach dem «Verrat» eines Vorzeigespielers wie Lutz Eigendorf
nicht denkbar gewesen.
Auf einmal hörte ich, wie Petersdorf sagte, die Spieler dürften noch ins Kino, und zwar in Begleitung unseres Mannschaftsmasseurs,
die «Offiziellen» wiederum seien eingeladen zu einem Bankett der jugoslawischen Delegation. Ich zählte zu den «Offiziellen».
Ein Bankett in Jugoslawien war im Prinzip das gleiche wie die Festessen in sozialistischen Ländern; es handelte sich um ein
Zusammensein von Funktionären. Nur schmeckten die Speisen besser, denn wir waren ja im «Westen». Was die Menge an ausgeschenktem
Alkohol betraf, konnte ich jedoch keinen Unterschied ausmachen.
«Mensch, Jörg, morgen ist zwar das Länderspiel, aber du kannst ruhig mit uns anstoßen.» Immer wieder bekam ich so etwas zu
hören, immer wieder wurde mir das Schnapsglas nachgefüllt. Da ich bei Alkohol damals selten nein sagte, fiel meine Zurückhaltung
schon auf. Aber ich wollte unbedingt nüchtern bleiben. Ein- oder zweimal leerte ich das Wodkaglas, ansonsten schüttete ich
den Inhalt einfach unter den Tisch. Es hatte sich schon eine ansehnliche Pfütze unter meinem Stuhl gebildet. Schließlich sagte
ich resolut: «Beim besten Willen, ich kann nicht mehr. Mir geht es nicht so gut, ich hab Zahnschmerzen.» Ein besserer Vorwand
war mir nicht eingefallen.
Gegen 23 Uhr war das Bankett beendet, eine Stunde später sollte eine Zusammenkunft der «Genossen» stattfinden. In dieser freien Stunde
probierte ich unzählige Male, meine Zimmertür geräuschlos auf- und wieder zuzumachen. Am Ende hatte ich den Dreh raus.
Mitternacht. Es wurde Zeit für die Sitzung. Riedel brachte uns |16| noch einmal den Fall Eigendorf in Erinnerung: «Genossen, wir müssen wachsam sein, besonders nach dem Länderspiel. Aus diesem
Grund wird es in der Nacht nach der Begegnung, also von Mittwoch auf Donnerstag, in den Gängen unseres Hotels Kontrollen geben.
Wir werden alles dafür tun, dass unsere Delegation geschlossen und ohne Zwischenfälle in die DDR zurückreist.» Damit war die
Entscheidung gefallen: Ich musste heute in den Zug steigen, morgen würde es zu gefährlich sein.
Als Erster verabschiedete ich mich aus der Funktionärsrunde, wiederholte, dass ich Zahnschmerzen hätte, völlig erledigt sei.
Mir war klar, dass Riedel und Petersdorf nach meinem Abgang über mich reden würden, darüber, wie ich mich bei meinem ersten
Einsatz in einem «westlichen» Ausland nach dem Reiseverbot verhalten hätte. Gründe für besondere Auffälligkeiten konnte ich
ihnen meiner Meinung nach nicht geliefert haben – bis jetzt jedenfalls.
Wieder auf meinem Zimmer, sah ich unentwegt auf die Armbanduhr. Es wurde ein Uhr, es wurde zwei Uhr. Angst hatte ich seit
dem Erwerb der Fahrkarte kaum verspürt. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt gewesen, mich nicht durch irgendeine Geste,
durch ein falsches Wort zu verraten. Nun war ich jedoch allein und hatte Zeit für alle möglichen Bedenken. Wieso willst du
eigentlich in den Westen?, fragte ich mich, als hätte ich in den vergangenen Jahren nie darüber nachgedacht. Dir geht es gut
in der DDR, du bist privilegiert. Du kannst im Sommer an die Ostsee
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