Meine zwei Halbzeiten
Endlose Felder mit dunkler Erde zogen an mir vorbei, bald würden sie langsam
grün werden. Ich musste aufpassen, nicht zu nachdenklich zu wirken. Bloß nicht auffallen – noch ein einziges Mal musste ich
mir das abverlangen. In der Vergangenheit hatte ich mich stets unkompliziert und fröhlich gegeben, das sollte mir doch auch
auf dieser Sportreise gelingen.
Schließlich hielt der Bus gegen halb fünf Uhr nachmittags vor dem Hotel Patria. Ein typischer Kastenbau, nichts Besonderes.
Nachdem alle ausgestiegen waren, drückte mir der Delegationsleiter eine Liste mit der Raumverteilung in die Hand. Normalerweise
war die Zuordnung von Spielern und Hotelzimmern eine Entscheidung des Trainers. Sie mir abzunehmen, gehörte anscheinend zu
den Vorsichtsmaßnahmen. Bei der Liste fiel auf, dass niemals zwei Spieler aus demselben Verein einen Raum teilten. Auf diese
Weise, so hoffte man wohl, sollte eine gemeinsame Flucht, eine gegenseitige Deckung verhindert werden. Perfekt durchdacht,
nahezu.
Ähnlich auffallend: Normalerweise wurden wir während eines Hotelaufenthalts auf mehrere Stockwerke verteilt, dieses Mal aber
belegten wir sämtliche Zimmer auf einer einzigen Etage, nämlich der dritten. Geschlossene Anstalt.
Am Abend aßen wir mit der gesamten Truppe im Speisesaal des Hotels, anschließend erhielten wir die Erlaubnis, auf unsere Zimmer
zu gehen. Ich hatte eines für mich allein, sonst musste ich es mir immer mit einem Funktionär oder Co-Trainer teilen. Angesichts
der Situation geradezu ein Planungsfehler.
Der nächste Tag, der Dienstag, war straff durchorganisiert: vormittags |13| Training, nachmittags Training, dazwischen Mittagessen und anderthalb Stunden zum Ausruhen. In dieser Zeit musste ich meinem
Ziel näherkommen.
Bei unserer Anreise waren wir an dem Bahnhof von Subotica vorbeigefahren, er lag nicht weit vom Hotel entfernt. Seitdem jeder
von uns ein Taschengeld in Höhe von 300 Dinaren ausgehändigt bekommen hatte, wusste ich, was zu tun war. Zu Fuß machte ich mich auf, um zu diesem Bahnhof zu gelangen.
Mein Orientierungssinn ließ mich nicht im Stich, und ich erreichte mein Ziel ohne größere Umwege.
Am Schalter löste ich von meinem jugoslawischen Geld eine Einfachfahrkarte Subotica – Belgrad. Da ich Russisch durch den Schulunterricht mindestens so gut sprechen und verstehen konnte wie der Bahnangestellte,
war der Kauf in der «Brudersprache» schnell abgewickelt. Ich erfuhr, dass es einen Zug aus Budapest in Richtung der jugoslawischen
Hauptstadt gab, der an jedem Werktag morgens um fünf Uhr in Subotica hielt. Die Fahrkarte selbst mit der Aufschrift «Beograd»
war zwei Tage gültig.
Als ich sie in den Händen hielt, blickte ich mich um. Ich konnte nichts Auffälliges entdecken. Und der Mann in dem Park gegenüber
dem Bahnhof? Drehte der nicht schon zum zweiten Mal eine Runde? Schaute der nicht verstohlen zu mir herüber? War er nicht
einer der Sicherheitsleute? Egal, es wäre zu spät gewesen. Die Fahrkarte hinunterzuschlucken, hätte mir auch nichts mehr genützt.
Schon der Aufenthalt auf dem «West»-Bahnhof war verboten.
Schweißgebadet steckte ich auf der Bahnhofstoilette die kleine braune Pappkarte in meine rechte Socke. Beim Umziehen zum nächsten
Training musste ich allerdings aufpassen, dass ich die Socken nicht unbedacht auszog. Normalerweise benutzte ich lediglich
Stutzen. Sollte mich jemand fragen, warum ich zusätzlich Socken trug, konnte ich immer noch sagen, dass mir vom vielen Rumstehen
heute Morgen kalt geworden sei.
|14| Das Nachmittagstraining verlief ohne Zwischenfälle, die Spieler waren sichtlich motiviert, einen Sieg über den Kapitalismus
davonzutragen. Danach begann das Freizeitprogramm, ein Stadtspaziergang war angesagt. Es war inzwischen halb sechs. Sollte
ich tatsächlich am nächsten Morgen fliehen, wären es knapp zwölf Stunden bis zur Abfahrt des Zuges nach Belgrad. Noch hatte
ich aber nicht entschieden, ob ich vor oder nach dem Spiel das Wagnis auf mich nehmen wollte. Trotzdem fing ich an, die Stunden
zu zählen.
Den üblichen Delegationsanzug hatte ich gegen einen anthrazitfarbenen Rollkragenpullover, eine schwarze Lederjacke, beigefarbene
Hosen und halbhohe Stiefel eingetauscht. Die Fahrkarte befand sich weiterhin in den nun etwas schweißigen Socken. Auf dem
Weg in die Innenstadt von Subotica blieb Klaus Petersdorf an meiner Seite. «Was machst du mit deinem jugoslawischen Geld?»,
fragte
Weitere Kostenlose Bücher