Meine zwei Halbzeiten
mit der Bahn. Für den Grenzübertritt müssen Sie sich Folgendes merken: Sollte man nach Ihrem Pass
fragen, antworten Sie, dass Ihnen Ihre Tasche – Sie haben ja sowieso keine bei sich – und Ihre Ausweispapiere gestohlen wurden. Von der Botschaft hätten Sie daraufhin einen
Ersatzpass erhalten. Kennen Sie für die neuen Dokumente einen realen Namen und eine Adresse in Westdeutschland, die Sie sich
ohne Schwierigkeiten merken können?»
«Gerd Penzel, Weilheim, Wettersteinstraße 1.» Es kam wie aus der Pistole geschossen. Gerd Penzel war ein sehr guter Bekannter
meiner Eltern, und bewusst hatte ich mir seine Anschrift gemerkt. Ein Passfoto brauchte man nicht zu machen, in weiser Voraussicht |28| hatte ich ja eines dabei. Vollkommen unvorbereitet war ich nun auch wieder nicht abgehauen. Bereits wenig später hielt ich
meinen Ersatzausweis in den Händen, gültig für drei Tage. Bis auf das Passfoto, den Geburtsort und das Geburtsdatum stimmte
nichts. Dennoch war es ein unbeschreibliches Gefühl, kam ich mir doch schon vor wie ein Bundesbürger.
«Wollen Sie heute Nacht fahren oder lieber ein, zwei Tage warten, bis die Sache sich etwas beruhigt hat?», fragte von Puttkamer
mich weiter. «Sie können in der Botschaft übernachten.»
Meine Antwort fiel eindeutig aus, ich wollte so schnell wie möglich von hier fortkommen. Ich kannte die Stasi-Maschinerie,
ging davon aus, dass es am nächsten Tag erst richtig mit den «strategischen Maßnahmen» losgehen würde. Und ich sollte recht
behalten. Noch kurz vor meiner Abreise reichte man mir die Abendausgabe des
Politika Ekspres
. Dessen Schlagzeile lautete übersetzt: «Trainer unter Zurücklassung seiner ganzen Sachen spurlos verschwunden!» Ich war nicht
geflüchtet, sondern «spurlos verschwunden», so klang es danach, als hätte man mich entführt. Sollten jugoslawische Zeitungsleser
durch diese Formulierung dazu aufgerufen werden, mich bei einer möglichen Entdeckung zu melden? Wen interessierte schon eine
gewöhnliche Flucht?
Die spätere Meldung der westlichen Nachrichtenagentur AP beruhte auf dem jugoslawischen Zeitungsartikel und las sich so: «Der
Trainer der Juniorenauswahl der DDR, Jörg Berger, ist nach Angaben der Belgrader Zeitung
Politika Ekspres
spurlos aus seinem Hotel in der nordjugoslawischen Stadt Subotica verschwunden. Das Blatt berichtete, Berger sei am Mittwochmorgen
nicht in seinem Hotelzimmer gewesen und auch später nicht wiederaufgetaucht. Sein Gepäck habe er zurückgelassen.»
Da ich darauf bestand, sofort auszureisen, überreichte man mir einen Umschlag mit westdeutschem und jugoslawischem Geld, insgesamt
rund 200 Mark, deren Rückzahlung zwei Jahre später |29| vom Auswärtigen Amt angemahnt wurde. Weiterhin schrieb man mir die Telefonnummer des Konsulats in Zagreb auf. Dort konnte
ich anrufen, wenn es Probleme gab.
Um 18 Uhr sollte mein Zug vom Belgrader Hauptbahnhof abfahren, es war der sogenannte Orient-Express. Die Strecke dieser Eisenbahnverbindung
verlief zu einem großen Teil durch den Balkan: Istanbul – Belgrad – Zagreb – Laibach – Klagenfurt – München – Paris. Bevor mich ein Botschaftsmitarbeiter zum Bahnhof brachte, gab man mir noch zu verstehen: «Es gibt Jugoslawen, die
auf der Seite der Kommunisten stehen, andere, die westlich eingestellt sind. Bedenken Sie das, wenn Sie an der Grenze kontrolliert
werden. Sollten Sie von einem Grenzer trotz Ihres neuen Passes erkannt und verhaftet werden – damit müssen Sie rechnen –, erzählen Sie nicht, dass wir Ihnen geholfen haben. Und sind Sie in der Bundesrepublik, dann bringen Sie uns auch nicht
ins Spiel. Die Staatssicherheit soll nichts von diesen Vorgängen erfahren.»
Deutlicher konnte man es mir nicht sagen: Meine Flucht war noch lange nicht ausgestanden. Die gefährlichste Etappe stand mir
erst bevor.
Wir verließen die Villa über einen Hinterausgang und gingen zu Fuß zum Bahnhof, was ungefähr eine Viertelstunde dauerte. An
den Weg kann ich mich kaum noch erinnern, weil mir tausend Dinge durch den Kopf schossen.
Nachdem wir das richtige Gleis gefunden hatten, überprüfte ich meine wichtigsten Eigentümer: ein Zugticket nach Frankfurt
– man hatte mir geraten, mich beim Deutschen Fußball-Bund zu melden, der dort beheimatet ist, sowie beim Aufnahmelager für
geflohene DD R-Bürger in Gießen –, das geliehene Geld und den Behelfspass. Meine Originalpapiere hatte ich in
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