Meine zwei Halbzeiten
reisen, im Winter im Erzgebirge Ski fahren. Nicht jeder
Bürger hat dazu die Möglichkeit. Und nicht zu vergessen: Bei den Frauen kommst du an. Über mangelnde Aufmerksamkeit musst
du dich nicht beklagen, das kann im Westen ganz anders aussehen. Hast du dir überhaupt Gedanken darüber gemacht, was dich
in der Bundesrepublik erwartet? Du hast keine Kontakte geknüpft, kannst keine Adresse aufsuchen, dich bei keinem Verein melden.
Keiner wartet darauf, dass du kommst, anders als bei Eigendorf. Bist du eigentlich ganz bei Sinnen?
|17| Inzwischen war es fast drei. Und was passiert, wenn die Flucht misslingt? Ich erschrak – diese Möglichkeit hatte ich bei all
meinen BR D-Phantasien verdrängt. Eine hilfreiche Methode, um allerlei Bauchschmerzen von sich fernzuhalten. Mit wie vielen Jahren im berüchtigten
Gefängnis Bautzen musste ich eigentlich bei einer Verhaftung rechnen? Es würden wohl einige sein. Und meine Karriere als Fußballtrainer?
Immerhin konnte ich es als DD R-Coach bis zur A-Nationalmannschaft schaffen. Doch damit wäre es ein für alle Mal vorbei.
Zerreiß die Fahrkarte!
Ich rauchte wie ein Schlot. Dabei war ich eigentlich kein Raucher, eher dafür bekannt, dass ich mir hin und wieder eine Zigarette
schnorrte. In meinem Kopf arbeitete es weiter: Niemandem hatte ich von meinen Fluchtplänen erzählt. Weder meiner Ex-Frau noch
meinem Sohn, auch meine Eltern und die Freunde hatten keine Ahnung, was mich in den letzten Jahren innerlich beschäftigt hatte.
Nur meine Mutter wusste etwas. Noch konnte ich zurückkehren, und alles würde so weiterlaufen wie bisher. Zugleich tauchte
immer wieder der Fünf-Uhr-Zug nach Belgrad als Verlockung auf. Wenn ich ihn nicht besteige, sagte ich mir, würde ich vielleicht
meine letzte Chance verspielen, in den Westen zu gelangen. Es war keineswegs sicher, dass man mich nach dieser Jugoslawienreise
wieder als Trainer für ein kapitalistisches Ausland einteilte. Und regulär hätte ich erst als Rentner in die Bundesrepublik
reisen dürfen. Fest stand nur eins: Würde ich nach dem Spiel wieder mit nach Berlin fliegen, käme ich unweigerlich bei einem
weiteren Fortkommen noch stärker in die Fänge des Systems. Das wollte ich keinesfalls.
Kurz vor halb fünf. Leise öffnete ich mit nun gekonntem Griff die Tür, schaute vorsichtig nach links, anschließend nach rechts.
Niemand war auf dem langen Flur zu sehen, weder Spieler noch Hotelpersonal. Ich ging die Treppen hinunter, der Pförtner am
Eingang des Hotels blickte müde hoch, als er mich sah.
|18| «Ich muss mal an die Luft, ich hab solche Zahnschmerzen», sagte ich auf Deutsch. Für den Fall, dass er mich nicht verstand,
setzte ich zudem einen gequälten Gesichtsausdruck auf und hielt mir mit der rechten Hand die Wange.
Der ältere Mann nickte nur und wandte sich wieder seiner Zeitung zu, die er, ihrem Aussehen nach zu urteilen, schon mehrmals
Zeile für Zeile durchgelesen haben musste.
Die Idee mit den Zahnschmerzen stellte sich immer mehr als nützlich heraus. Sollte mich jetzt jemand beobachten und es seltsam
finden, dass ich um diese Uhrzeit das Hotel verließ, so konnte ich behaupten, sie hätten mich dazu getrieben, einen Spaziergang
zu machen. Im Prinzip glaubhaft. Außerdem hatte ich nichts Auffälliges dabei, keine Tasche mit Kleidung oder andere persönliche
Gegenstände, einzig meinen Führerschein, den Personalausweis mit einem beigelegten Passfoto – wer weiß, wozu es nützlich sein
konnte – sowie den Ausweis des Deutschen Sportbundes der DDR. Meine Fahrkarte in der Socke würde man nur finden, wenn man
mich dazu zwang, mich vollkommen auszuziehen.
Fast hatte ich den Park, der auf den Bahnhof zuführte, durchquert, da zuckte ich plötzlich zusammen. Jemand lief hinter mir
her. Keine Chance, sich noch in die Büsche zu schlagen. Ich versuchte ruhig weiterzuatmen, meinen gleichmäßigen Schritt beizubehalten.
Im nächsten Moment würde man mich packen, abführen und verhören. Inzwischen waren vielleicht zwanzig Minuten vergangen, seitdem
ich das Hotel verlassen hatte. Der Pförtner hatte bestimmt Meldung gemacht, weil ich nicht in mein Zimmer zurückgekehrt war.
Doch ich hatte Glück: Der Mann rannte an mir vorbei, Richtung Bahnhof. Er sah nach einem jugoslawischen Arbeiter aus, der
seinen Frühzug nicht versäumen wollte. Ich atmete tief durch. Noch einmal davongekommen! Das sollte ich in den nächsten beiden
Tagen noch häufiger
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