Meine zwei Halbzeiten
ihn den «Blinden» –, doch weil er als Einziger einen besaß, ließen wir ihn immer mitmachen. Ansonsten wurde gewählt. Jeden Nachmittag gab es
mehr Mitspieler, als benötigt wurden. Fußball war beliebt, weil es kaum eine andere Beschäftigung gab. Ich war gut genug,
dass ich stets dabei sein durfte, selbst wenn ich fünf Minuten zu spät kam. Nie musste ich darauf warten, dass ein Spieler
das Feld verließ, um eingewechselt zu werden.
Am Wochenende hatten meine Eltern nicht immer Zeit, mit mir etwas zu unternehmen. Ich blieb Einzelkind, und als ein solches
lernte ich schnell, selbständig zu werden. Keineswegs war ich ein Typ wie mein Vater, der lieber zu Hause herumsaß. Ich musste
raus, suchte mir meine eigenen Beschäftigungen. Oft fuhr ich mit der Straßenbahn zum Pferderennen nach Schleußig in die Südvorstadt.
Geld für den Eintritt hatte ich nie. Aber entweder nahm mich jemand mit, oder ich schlängelte mich so durch. Eine andere Attraktivität
war für mich die jährlich stattfindende Friedensfahrt, ein Amateurradrennen, das von Berlin durch Leipzig |48| und weiter nach Warschau sowie Prag ging. Es war so beliebt, dass man von einer «Tour de France des Ostens» sprach. Außerdem
zog ich los, um gesellschaftlich tätig zu werden. So hieß es: «Flaschen, Lumpen und Papier – das sammelt ein guter Pionier.»
Ich war jedenfalls immer da, wo etwas passierte; wenn es einmal besonders viele Aktivitäten an einem Tag waren, überreichte
ich meiner Oma auch einen Terminplan.
Die Fußballweltmeisterschaft 1954 war natürlich ein unvergessliches Erlebnis. Ich war knapp zehn Jahre alt und verfolgte übers
Radio die einzelnen Spiele in der Schweiz. Irgendwie bekam ich heraus, dass es in der Nähe unserer Wohnung ein Agitprop-Lokal
gab. Agitprop war ein Kurzwort, das sich aus den Wörtern «Agitation und Propaganda» zusammensetzte, es sollte so etwas wie
«politische Werbung» zum Ausdruck bringen. Anders gesagt: Das Lokal war von der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands,
initiiert worden, dort gingen vorwiegend geschulte Parteigenossen ein und aus. Egal, hier sollte am 4. Juli das Endspiel übertragen werden.
Selbstbewusst ging ich am großen Tag dorthin. Keiner warf mich hinaus, man nahm wohl an, dass ich das Kind von einem der anwesenden
Genossen war. An der Kopfseite des Lokals befand sich ein kleiner Schwarzweißfernseher der Marke «Rubens», nicht größer als
ein DIN-A 4-Blatt . Der Reporter bei diesem Spiel war Wolfgang Hempel, einer der renommiertesten und beliebtesten Sportmoderatoren der DDR.
Weil er so viel wusste, nannte man ihn auch den «Doktor»; später lernte ich ihn in meiner Zeit als Fußballer und Trainer persönlich
kennen.
Es war für mich die erste Live-Übertragung eines Spiels im Fernsehen, nur sehr wenige Menschen besaßen damals überhaupt ein
Gerät. Selbstverständlich mussten die Zuschauer zu den Ungarn halten. Die hohe Ehre eines sozialistischen Bruderlands stand
auf dem Spiel, es galt doch zu beweisen, dass man dem Kapitalismus überlegen war.
|49| Von diesen Hintergründen hatte ich allerdings noch keinen blassen Schimmer. Ich jedenfalls war für die Mannschaft mit Helmut
Rahn, Fritz Walter und Toni Turek im Tor. Der Fußball im Westen, er war für mich eindeutig besser und interessanter als der
bei uns. Aber es sah nicht gut aus für meine Helden, denn schon in den ersten acht Minuten des Spiels kassierte Toni gleich
zwei Tore. Die Stimmung um mich herum war aufgedreht, ich selbst saß niedergedrückt auf meinem Stuhl.
Doch dann, zwei Minuten später, sorgte Max Morlock für das 2 : 1. Jubelnd sprang ich auf. Ich merkte erst gar nicht, dass ich der Einzige war, der sich freute. Plötzlich packte mich einer
der Genossen und zog mich auf meinen Stuhl zurück: «Hey, Kleener, wenn du nochmal hochspringst, wenn die ’n Tor machen, dann
fliegste raus!» Ich stutzte einen Moment, aber dann wusste ich ohne weitere Erklärungen, was Sache war.
Als das 2 : 2 fiel, hatte ich mich im Griff. Nicht so ein paar der Genossen: Fünf oder sechs von ihnen sprangen plötzlich auf. Sie waren
vor Freude derart aus dem Häuschen, dass sie vollkommen ihre politische Gesinnung vergaßen. Wenigstens für einen Moment. Sobald
sie sich bewusst wurden, was sie getan hatten, schauten sie sich zum Teil ängstlich um und setzten sich blitzschnell wieder.
Den Zwiespalt, in dem sich diese Genossen befanden,
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