Meine zwei Halbzeiten
konnte selbst ich als Zehnjähriger spüren. Als dann Helmut Rahn das dritte
Tor schoss, das Tor zum Sieg, da war der Bruderstaat Ungarn nur noch auf dem Papier ein solcher. Jetzt kannst auch du wieder
jubeln, dachte ich, denn bis auf ein paar wenige stramme Genossen hatten sich alle von den Stühlen erhoben, prosteten sich
mit Bier zu oder umarmten sich. Ja, das war das Land, in dem ich aufwuchs.
Ich fühlte mich dem Fußball verbunden, dem großen Fußball – da hatte die Politik kaum eine Bedeutung für mich. Meine Eltern
pflegten ohnehin ein distanziertes Verhältnis zu dem Staat, in dem sie lebten. Weder flaggten sie, noch waren sie in der Partei. |50| Dennoch kam ich nicht umhin, bei den Pionieren mitzumachen, die in der DDR eine Art zweites Erziehungssystem neben der Schule
betrieben. Da half es auch nichts, wenn die Mitgliedschaft bei dieser politischen Massenorganisation für die Schulkinder formal
freiwillig war. Aber irgendwie gehörte ich wiederum nicht ganz dazu. Denn es gelang mir hervorragend, die Treffen mit den
unterschiedlichsten Ausreden – darin war ich brillant – zu schwänzen.
Von der ersten bis zur dritten Klasse hießen wir Jungpioniere, von der vierten bis zur siebten Thälmannpioniere. Bekleidet
waren wir mit einem weißen Hemd, das mit einem blauen Halstuch kombiniert wurde. Nichts fand ich blöder als dieses geknotete
Ding, es war mir einfach zu feminin. Schon meine Mutter hatte sich gewünscht, dass ich als Kind immer ein bisschen flott angezogen
war, mit einem Kinderschlips und so. Dagegen hatte ich mich massiv gewehrt: «Ich komme nicht mit, wenn ich das anziehen muss.»
Damit konnte ich bei den Pionieren nicht drohen, aber meine eigene Meinung ließ ich mir von niemandem nehmen.
Dass ich mit Hemd und Halstuch demonstrieren sollte, hinter dem System zu stehen, mich ihm zugehörig zu fühlen – mit diesen
verordneten Emotionen konnte ich nichts anfangen. Ich zog die Kombination an, ich zog sie wieder aus und legte sie in die
Ecke. Für mich waren die Pioniere und die FDJ – in der Freien Deutschen Jugend war ich von der achten Klasse bis zum Ende
meiner Lehre – das, was zum Leben dazugehörte und mich letztlich auch nicht weiter störte.
Albern fand ich allerdings immer all die Rituale, die in den Jugendorganisationen gepflegt wurden. Bei der FDJ tauschte man
beispielsweise das Wort «Freundschaft» zum Gruße aus – ich fragte mich oft: «Mit wem eigentlich?» Unvergesslich ist mir auch
der Pioniergruß. Der Lehrer oder ein auserwählter Schüler sagte: «Für Frieden und Sozialismus seid bereit.» Die gesamte Klasse
musste daraufhin mit «Immer bereit!» antworten, wobei |51| wir die rechte Hand vertikal über den Kopf zu halten hatten. Der Gruß wurde zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit
entrichtet. Gern ließ man auch immer wieder die Gesetze der Thälmannpioniere vortragen: «Wir Thälmannpioniere halten unseren
Körper sauber und gesund, treiben regelmäßig Sport und sind fröhlich. Wir stählen unseren Körper bei Sport, Spiel und Touristik.
Wir interessieren uns für die Schönheiten unserer Heimat und wandern gern. Wir rauchen nicht und trinken keinen Alkohol.»
Immerhin erfüllte ich zur allgemeinen Freude die körperlichen Anforderungen im Übermaß.
Bei den Veranstaltungen der FDJ ging es im Gegensatz zu denen der Jungpioniere noch stärker um eine politische Aufklärung,
man zeigte uns zum Beispiel Filme über die Sowjetunion. Zu wichtigen Versammlungen erschien ich jedoch frühestens in allerletzter
Minute oder erst gar nicht. Durch den Fußball und weil ich seit der achten Klasse zur Schulmannschaft gehörte, hatte ich auch
ständig Ausreden parat. Ich brachte diese anscheinend stets so treuherzig vor, dass ich nie negativ auffiel. Keiner übte Druck
auf mich aus. Ich habe immer geschickt die Mitte gefunden, mich durch alles hindurchgemogelt. Nie sagte ich etwas Abfälliges.
Das DD R-System empfand ich aufgrund meiner Konzentration auf den Fußball nicht als Zwang. Noch nicht.
|52| 4
Hätte man doch nur mich die Mauer bauen lassen
|53| Nach der Weltmeisterschaft 1954 war klar: Ich wollte ein erfolgreicher Fußballspieler werden. Ich weiß noch, wie ich in dieser
Zeit ein Buch über Fritz Walter in die Hände bekam. Es hieß
3 : 2 – Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!
Erschienen war es in einem westdeutschen Verlag, und einer meiner Freunde, Klaus, hatte es geschenkt
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