Meine zwei Halbzeiten
Halle und Leipzig gibt es den Flughafen Schkeuditz. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er der viertgrößte Deutschlands
und eine wichtige Drehscheibe im nationalen wie internationalen Flugverkehr. Während des Krieges wurde die zivile Luftfahrt
jedoch eingestellt, Schkeuditz von der Luftwaffe übernommen. Die DDR wiederum hatte ehrgeizige Flugzeugentwicklungspläne und
fing sogar an, für ihre Modelle eine neue Landebahn zu bauen. Als aber einer der in Dresden neukonstruierten Prototypen in
der Testphase abstürzte, war es damit vorbei. 1961 beschloss der DD R-Ministerrat , den Flugzeugbau einzustellen. Die Russen hätten eine Konkurrenz für die sowjetische Luftfahrtindustrie sowieso nicht gern
gesehen. Und so fand durch den Absturz der Maschine auch mein Berufswunsch von einem Tag auf den anderen ein Ende.
Überhaupt passierte viel in der Zeit, als ich vierzehn, fünfzehn Jahre alt war. So zogen wir um, einschließlich meiner Großmutter.
Die neue Wohnung lag in Eutritzsch, einem Stadtteil im Norden von Leipzig, in der Gräfestraße 36. Jetzt hatte ich endlich mein eigenes Zimmer, eine kleine Dachkammer, musste aber, um dorthin zu gelangen, weiterhin durch
Friedas Räumlichkeiten.
Das blieb nicht das einzige große Ereignis. Meine Großmutter |56| gewann in einer Zahlenlotterie 15 000 Ost-Mark, eine Menge Geld. Diesen Gewinn verwendete sie zum großen Teil für den Kauf eines Trabants, den sie in die Obhut
meines Vaters gab. Der Trabi war grau, ein Modell aus dem VEB Sachsenring. Während der Woche stand es in der kleinen Garage,
die mein Vater aus Presspappe gebaut hatte, also demselben Material, aus dem man den Trabi in Zwickau produzierte. Ständig
wurde der Wagen geputzt, und wenn für das Wochenende ein Ausflug geplant war, es dann aber regnete, sagte mein Vater: «Es
ist viel zu viel Verkehr auf den Straßen, wir lassen das Auto besser stehen und fahren mit der Straßenbahn.» Schien stattdessen
die Sonne, war er der gehorsame Chauffeur, und Oma bestimmte, wohin es ging.
Mir schenkte sie von dem verbliebenen Gewinn ein Fahrrad. Das war damals etwas ganz Besonderes. Kurz darauf starb sie. Für
mich, den Fünfzehnjährigen, war das ein großer Schock. Ich verlor einen Menschen, der mich den größten Teil meiner Kindheit
begleitet hatte. Trotz ihrer rustikalen Art war Oma sehr tolerant, gewährte mir viele Freiheiten und förderte mich in meiner
Selbständigkeit.
Wegen des Umzugs nach Eutritzsch wechselte ich die Schule und besuchte nun die 34. Mittelschule, die sich in der Straße der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft befand. Um weiterhin meine frühere Klasse zu besuchen,
war die Entfernung einfach zu groß. Dennoch hielt sie mich anfangs nicht davon ab, mich fast jeden Tag auf mein Fahrrad zu
setzen und fünfzehn Kilometer quer durch die Stadt zu radeln, um mit meiner alten Mannschaft das Training fortsetzen zu können.
Manchmal schaffte ich es nicht, pünktlich anzukommen, dann fingen meine Mitspieler zu zehnt an. Auch wenn sie bei einem Spiel
mit 1 : 0 oder gar 2 : 0 zurücklagen – es fehlte ja ein Spieler –, gewannen wir am Ende meist doch noch. Ich war inzwischen Stürmer, und zwei Tore waren bei mir mindestens drin. Immer häufiger
traten Trainer von Vereinen an mich heran, sagten: «Du bist ein großes Talent», und forderten |57| mich auf, in eine bessere Mannschaft zu wechseln. Derartige Angebote schlug ich lange aus, bis ich als Fünfzehnjähriger zur
Jugendmannschaft des Oberligavereins SC Lokomotive Leipzig ging.
Auf der Mittelschule absolvierte ich 1960 die mittlere Reife. Meine Noten konnte man nicht gerade als hervorragend bezeichnen,
aber sie waren auch nicht miserabel. Mir war klar, wenn ich auf einen Sichtungs- oder Ausbildungslehrgang für Fußball kommen
wollte – dass es einen solchen gab, hatte ich inzwischen in Erfahrung gebracht –, durften meine Leistungen nicht allzu schlecht sein. Doch wie sollte es überhaupt weitergehen? Abitur? Ich hatte den Verdacht,
ich könnte möglicherweise nicht gut genug dafür sein. Schließlich hörte ich durch meinen Freund Wolfgang Kluge von einer neu
eingeführten Weiterbildungsmöglichkeit, nämlich der Berufsausbildung mit Abitur (BMA). Das klang gut.
Zu Hause erzählte ich sofort meiner Mutter davon. Ihr Kommentar: «Frieda hätte gesagt: ‹Der faule Hund, jetzt will der auch
noch Abitur machen!›» Eine große Fähigkeit meiner Mutter bestand darin, den
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