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Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
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Lüge.»
    Immer wieder gab sie mir, als ich älter war, zu verstehen: «Auch wenn du anders als die meisten denkst, du weißt, was du zu
     sagen hast.» Doch sie vertraute mir. Nie hörte ich von ihr: «Pass auf, so darfst du das nicht draußen herumerzählen.»
    |43| Irgendwann war ich so alt, dass ich eingeschult werden musste. Das war etwas lästig, weil ich nun einige Stunden ruhig auf
     einem Platz zu sitzen hatte. Aber sobald ich wieder bei Frieda war, schmiss ich den Ranzen in die Ecke, aß etwas und ward
     nicht mehr gesehen – wie es sich eben für ein Straßenkind gehörte. Den ganzen Nachmittag spielte ich Fußball auf der «wilden»
     Wiese, wo aufgestellte Holzstangen als Tore dienten. Vieles war zerbombt, zerstört, doch auf diesem Gelände gab es so gut
     wie keinen Schutt. Besser konnte es nicht sein.
    Jeden Tag kam unser Lehrer, Herr Jaschonek, auf seinem Nachhauseweg an diesem Grundstück vorbei. Bei einem Elternabend sagte
     er, der uns mit strenger Hand führte, einmal zu meiner Mutter: «Also, ich hab bislang nicht erlebt, dass der Jörg auf dem
     Fußballplatz fehlte. Mittags ist er dort, abends immer noch. Wann macht der denn seine Schularbeiten?» Meine Mutter fragte
     sich das auch, nur Oma wusste, wie das bei mir funktionierte: hier mal ein bisschen, dort mal zehn Minuten, stets nebenbei.
     Um ihre Schwiegertochter nicht zu belasten, erzählte Frieda jedoch nichts von meiner «Technik». Immerhin blieb ich nie sitzen,
     und ich war auch nicht der Schlechteste in der Klasse. Aber ein fauler Hund, das war ich schon.
    In jeder Straße der Umgebung wohnten Jungen wie mein Freund Klaus Probst, mit denen man sich zum «Fetten» – das Wort «Bolzen»
     kannten wir noch nicht – verabreden konnte. Oft hieß es: «Kommst du mit, morgen wollen wir gegen die aus Stötteritz spielen.
     Wir brauchen noch einen, hast du Lust?» Klar kam ich mit, ich ließ mir keine Gelegenheit entgehen, um mein Spiel zu verbessern.
     Fußball war für mich alles.
    Torwart wollte ich werden und meinem großen Vorbild Günter Busch nacheifern. «Buscher mit der Mütze», wie er genannt wurde,
     spielte bei Industrie beziehungsweise BSG Chemie Leipzig, später bei SC Lokomotive Leipzig. Als Keeper machte er mit seinen
     gerade ein Meter achtzig die spektakulärsten Paraden. Um |44| so toll wie der als «Meister des Sports» ausgezeichnete Fußballer zu werden, übte ich sogar zu Hause, selbstverständlich mit
     Mütze. Ich nahm Anlauf und warf mich bäuchlings aufs Bett – dabei stellte ich mir vor, die härtesten Bälle zu halten.
    Eines Abends ging meine Schlafstätte dabei zu Bruch. Es war schon erstaunlich, dass sie überhaupt so lange durchgehalten hatte.
     Vor Schreck versteckte ich mich in Friedas Schrank, als wenn dadurch das Bett wieder in Ordnung gekommen wäre. Irgendwann
     fand mich meine Oma und zerrte mich zwischen ihren Kleidern hervor.
    Was ich in meiner Angst nicht bemerkt hatte: Ich hatte mich auf ihre zehn, zwölf übereinandergestapelten besten Hüte gesetzt.
     Jetzt gab es bei der alten Patriarchin kein Pardon mehr. Jeder einzelne von ihnen wurde an die Wand gepfeffert, begleitet
     von sich steigernden Drohungen: «Es wird kein Straßenbahngeld mehr geben   … es wird kein Kinogeld mehr geben   … für die nächsten Wochen hast du Hausarrest!»
    Ähnlich wütend erlebte ich sie noch einmal zur Vorweihnachtszeit. Bei uns war es Tradition, den Stollen selbst zu machen.
     Genauer gesagt: Zu Hause wurde der Teig vorbereitet, dann brachte man ihn – mit einem Schild versehen, worauf der Name des
     Besitzers stand – zu seiner Bäckerei, um ihn dort backen zu lassen. Fast jede Familie trug auf diese Weise vier, fünf Stollen
     zum Bäcker.
    Eines Tages kam ich mit einigen Kumpels aus der Nachbarschaft vom Fußballplatz zurück. Plötzlich hatte ich die Idee, einen
     Wettlauf zu veranstalten: Wer erreicht als Erster die Reiskestraße? Es war kalt, und so machte jeder mit. Ich gab den anderen
     auch einen Vorsprung, weil ich sehr schnell rennen konnte.
    Diesmal lief ich aber so schnell, dass ich an einer Ecke eine ältere Frau übersah, die gerade ein Blech mit frischgebackenen
     Stollen nach Hause trug. Ich steuerte schnurstracks darauf zu, sah noch, dass alles mit einem Geschirrtuch bedeckt war – rumms! |45| Die Frau saß auf dem Boden, ich mehr oder weniger auf ihr, die noch warmen Christstollen ein einziger Haufen von Krümeln.
     Ich suchte die größeren Reste zusammen und rettete, was zu

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