Meine zwei Halbzeiten
kein Wort darüber verlor, kann ich das nur vermuten.
Vor dem Krieg hatte mein Vater, im selben Jahr geboren wie meine Mutter, sein Geld als Reproduktionsfotograf verdient, danach
war er als Lagerverwalter tätig. Mit Sicherheit hätte er in seinem alten Beruf Anschluss finden können, Fachkräfte wurden
schließlich gesucht. Warum er sich nicht darum bemühte, blieb für mich ein Rätsel. Meine Mutter dagegen hatte sich mit ihrem
beruflichen Ehrgeiz von der Stenotypistin zur Chefsekretärin hochgearbeitet. Sie war keine Frau, die stundenlang am Herd hätte
stehen können, sie brauchte die Arbeit, die vielen Bücher, |41| die sie las. Nur so hatte sie das Gefühl, sich selbst zu verwirklichen.
Mit ihren dunkelblonden, welligen Haaren – auf der Flucht nach Leipzig war eine Strähne weiß geworden –, den feinen Gesichtszügen und dem schwungvollen Gang war sie eine sehr attraktive und interessante Frau. Sie versuchte alles,
was unsere Familie betraf, in der Hand zu halten und zu bestimmen. Auch die finanziellen Angelegenheiten. In sechs, sieben
Kuverts verwahrte sie die Familieneinkünfte. In dem einen Umschlag steckte Geld für den Haushalt, in dem zweiten wurde Erspartes
für den Urlaub gesammelt – meist zwei Wochen in einer kleinen Pension in Thüringen, natürlich von meiner Mutter geplant –, auf dem dritten stand «Kleidung». Wofür die anderen Kuverts gedacht waren, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.
Mein Vater musste seinen Verdienst komplett bis auf ein Taschengeld abgeben. Er war seiner Ehefrau in vielen Dingen unterlegen,
kein Wunder, dass er bei Auseinandersetzungen zwischen ihr und Frieda stets auf der Seite seiner Mutter war. Aus heutiger
Sicht scheint es fast verwunderlich, dass diese Ehe überhaupt gehalten hat.
Als es die Mauer noch nicht gab, gingen meine Mutter und ich einmal mit einem bezahlten Schleuser über die «Grüne Grenze»
bei Hof in den Westen. Zuerst trampten wir nach Weilheim, später noch in den Norden nach Lübeck, wo sie mit ihren Eltern gewohnt
hatte, bevor sie meinen Vater kennenlernte, und nach Bremerhaven zu Lissy Hurrelmann. Dabei durfte ich mit Erstaunen feststellen,
dass meine Mutter Chancen bei anderen Männern hatte. Von einem Amerikaner, der uns mitnahm, erhielt sie sogar einen Heiratsantrag.
Er war ein höherer Offizier und nannte mich «little boy». Wir sollten bei ihm bleiben, so wünschte er es sich, und zusammen
in die Vereinigten Staaten ziehen. Ich will nicht behaupten, dass meine Mutter bei diesem Angebot ins Wanken geriet. Doch
sie merkte, dass es noch andere Optionen im Leben |42| gab, und hinzu kam, dass es ihr im Westen besser gefiel als im Osten. Wir sind aber zu meinem Vater und Frieda zurückgekehrt.
Wieder zu Hause, drängte meine Mutter ihren Mann: «Du kannst doch auch drüben etwas finden. Wir suchen uns dort eine neue
Arbeit.» In dieser Zeit, den fünfziger Jahren, hätte man noch ohne größere Probleme gehen können. Und viele taten dies auch.
Aber meine Mutter konnte meinen Vater nicht dazu bewegen, etwas Neues anzupacken. Er ließ sich nicht verpflanzen. Als Achtzehnjähriger
fragte ich ihn, warum er nicht die DDR verlassen habe. Er wich mir aus, beantwortete meine Frage nicht.
Der Westen, das bedeutete für meine Mutter: Die Menschen, die dort leben, können machen, was sie wollen. Die können ihre Entscheidungen
selbst treffen, überall hinreisen. Ihre Sehnsucht, andere Länder kennenzulernen, machte ich zu meiner eigenen. Nach aktuellem
Stand habe ich über siebzig verschiedene Länder besucht – als wenn ich es für sie getan hätte.
Meine Mutter war für mich auch jene Person, die nicht auf die Propaganda der SED hereinfiel. Ihr Vater war vor dem Nationalsozialismus
ein überzeugter SP D-Wähler gewesen, das hatte sie geprägt. Sie äußerte ihre politische Meinung zwar nicht direkt, dafür war sie zu klug, aber oft genug
sagte sie zu mir: «Du darfst nicht alles glauben, was sie dir hier erzählen. Wenn man dir sagt, dass die im Westen hungern,
dann stimmt das nicht. Du hast es selbst erlebt. Und es kann auch keine Rede davon sein, dass es drüben nur Arbeitslose gibt.»
Später erwähnte sie ein anderes Beispiel, das mich nachdenklich stimmte: «Hier im Osten soll alles sauberer sein als im Westen?
Gerade in Leipzig? Dass ich nicht lache. Wenn man sieht, wie der Dreck aus den Schornsteinen rausgeblasen wird und wir das
einatmen, ist das ganz klar eine
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