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Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
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einzusetzen, unser Ausdruck für Westgeld. Wer über «blaue Fliesen»
     verfügte – und ich hatte einige durch meine West-Reisen   –, der konnte sich nahezu alles besorgen.
    Als ich meinen Trabi abholte, musste ich tief schlucken. Mit jeder Farbe hatte ich gerechnet, nur nicht mit dieser: Hellblau.
     Ich fand ihn dennoch klasse, immerhin hatte er ein weißes Dach und Silberleisten   … ein richtiges Geschoss!
    Mein erster Weg führte zu meinen Eltern. Es war schönstes Sommerwetter, und so stand der graue Trabi meines Vaters direkt
     vor dem Haus in der Gräfestraße 36.   Ich konnte es natürlich nicht lassen, mein hellblaues de Luxe-Modell direkt vor seinem zu parken.
    Als ich die Wohnung betrat, zwinkerte ich meiner Mutter zu, sie wusste, dass ich ein Auto bestellt hatte und es heute abholen
     wollte. Wie zufällig trat sie ans Fenster und sagte: «Franzl! Hast du schon gesehen, da unten steht ein Trabant de Luxe. Ganz
     neu.»
    So schnell hatte ich meinen Vater noch nie aus dem Sessel hochkommen sehen. Augenblicklich eilte er ans Fenster.
    «Wem gehört der Trabi?», fragte er aufgeregt, denn außer ihm besaß niemand in der Nachbarschaft einen Wagen. Nun hatte er
     Konkurrenz erhalten.
    Meine Mutter zuckte mit den Schultern, schließlich sagte ich: |72| «Ich geh jetzt mal runter. Bleibt aber am Fenster stehen, ich will euch was zeigen.»
    Auf der Straße angekommen, stieg ich in mein hellblaues Gefährt. Das Gesicht meines Vaters werde ich nie vergessen. Ich wusste
     genau, was ihm durch den Kopf schoss: Der Junge wird doch nichts Schlimmes gemacht haben. Der hat doch nicht   … Auf einen Trabi wartet man normalerweise zwölf Jahre! Mit einem Gefühl, als hätte ich gerade einen alles entscheidenden
     Elfmeter verwandelt, startete ich den Motor.
    Nicht ganz so glanzvoll machte ich drei Jahre später, 1966, mein Abitur mit einem Facharbeiterabschluss als Maurer und Hochbaumonteur.
     Ich hatte dafür sechs Jahre gebraucht, drei Jahre länger als meine Mitschüler. Zum Ende meiner Ausbildung musste ich eine
     Mauer hochziehen. Es war die einzige in meiner Lehrzeit – und sie sollte einfallen. Ich erinnere mich noch, es war ein sehr
     windiger Tag gewesen, und genau das hatte ich nicht berücksichtigt. Keinen Stein setzte ich letztlich gerade auf den vorherigen.
     Hätte man doch mich 1961 die Mauer bauen lassen!

|73| 5
In der Kaderschmiede
    |74| Über mein weiteres Leben konnte ich nicht mehr so frei bestimmen wie über meine Schullaufbahn. Nach Facharbeiterabschluss
     und Abitur durfte ich nicht meinem Wunsch entsprechend an der Bauhochschule Architektur studieren, sondern musste mich an
     der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig zum Sportlehrer ausbilden lassen. Die nächsten Studiengänge begannen
     aber erst in einem Jahr, das hieß, bis dahin musste ich die Zeit überbrücken. Also setzte man mich halbtags auf einer «Planstelle»
     im Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) am Leipziger Hauptbahnhof ein – ich musste eine Arbeit nachweisen, sonst hätte man mich
     als «Profi» bezeichnen können   –, nachmittags trainierte ich, und abends besuchte ich die Volkshochschule, um mich mit einigen ausgesuchten Kursen auf das
     Sportstudium vorzubereiten.
    Beim RAW lehrte mich ein altgedienter Werktätiger etwas Grundsätzliches über den Sozialismus. Wir saßen in Blaumännern auf
     dem Dach des Leipziger Hauptbahnhofes im Zentrum der Stadt, unsere Arbeitskoffer befanden sich neben uns. Eigentlich hatten
     wir sie noch gar nicht geöffnet. Von oben sahen wir die Reisenden von der Straßenbahn in die Westhalle des Bahnhofs gehen.
     Wir aßen bedächtig unsere geschmierten Brote, schließlich musste das Frühstück eingenommen werden. Es war vielleicht gegen
     neun Uhr.
    «Na, Kleener, wann musste denn los zum Training?», fragte mich der ältere Arbeiter. Er sagte stets «Kleener» zu mir, obwohl
     ich fast zweiundzwanzig war.
    «Um zwölf», antwortete ich.
    «Na, dann ziehn wir die Pause mal ein bisschen in die Länge.» Gemütlich biss er in sein Leberwurstbrot. Die Sache war für
     ihn klar, vor Schlag zwölf würde er seinen Arbeitskoffer nicht öffnen.
    «Aber wir müssen doch wenigstens etwas tun!» Faul war ich auch gern, aber so faul – das kam selbst mir etwas unheimlich vor.
    «Merk dir, Kleener, wenn wer unter Leuten sin, fortissimo, fortissimo. |75| Sin wer aber alleene, piano, piano.» Als ich das hörte, dachte ich, dass wir auf diese Weise nie den Kapitalismus

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