Meine zwei Halbzeiten
genauestens gesichtet und speziell gefördert, diese Einrichtung war die Kaderschmiede für sämtliche Medaillengewinner
der DDR bei den Olympischen Spielen.
Lange haderte ich nicht. Es gab keine andere Möglichkeit, ich wollte kein Sportwrack werden. Also beendete ich meine Laufbahn
als Fußballer und konzentrierte mich auf mein Studium.
Diese Entscheidung führte dazu, dass ich mir von meinen Mitspielern beim 1. FC Lok Leipzig nicht mehr anhören musste: «Ah, da ist ja der Herr Student, erscheint er auch mal wieder zum Training.» Ich
machte aber auch die Erfahrung, zum ersten Mal in meinem Leben «ausdelegiert» zu werden. Das hieß: Man entließ mich aus dem
Leistungssport. Selbst wenn ich mich umentschieden hätte, durfte ich nicht dorthin zurück, weil ich sonst anderen Spielern
die sogenannte «Förderstelle» weggenommen hätte.
Aufgrund meiner Fußballerlaufbahn absolvierte ich ein «Sonderstudium» für Leistungssportler, daneben gab es die Zweige «Volkssport»
und «Schulsport». Die Studenten im Sonderstudium |80| hatten das Privileg, dass sie ihren Lehrplan nach dem jeweiligen Training ausrichten konnten. Das brachte aber nicht nur Vorteile
mit sich, einige Sportler mussten dadurch ihr Studium unglaublich in die Länge ziehen. Gustav-Adolf «Täve» Schur, Radrennfahrer
und einer der populärsten Sportler der DDR, gelang es, zehn oder sogar zwölf Jahre an der Hochschule für Körperkultur eingeschrieben
zu sein.
In unserer Gruppe gab es die unterschiedlichsten Sportler – darunter Olympiasieger, Welt- und Europameister –, doch jeder musste alle Disziplinen beherrschen: Schwimmen, Skifahren, Leichtathletik und die Ballsportarten. Eine Spezialisierung
fand erst viel später statt. Tröstlich war, dass keiner von uns in sämtlichen Sportarten gute Zensuren erzielte. Am besten
waren die Turner, da sie sehr beweglich waren, sogar Fußball konnten sie ziemlich gut spielen. Für mich dagegen war Turnen
ein Grauen, wenn ich ansonsten auch sehr vielseitig war und man in mein Studienheft nicht die schlechtesten Noten eintrug
– hauptsächlich eine Eins.
Ein wenig Sorge bereitete mir eine Prüfung anlässlich eines Winterlagers: Wir hatten von der Kinder- und Jugendschanze im
erzgebirgischen Johanngeorgenstadt einen Sprung zu wagen, bei dem durchschnittliche Skispringer eine Weite von fast fünfzig
Metern erzielten. Da galt es nun, allen Mut zusammenzunehmen. Wir mussten nach unten, eine andere Wahl hatten wir nicht. Als
ich an die Reihe kam, hatte ich genauso weiche Knie wie meine Kommilitonen. Um meine Angst nicht übermächtig werden zu lassen,
wollte ich den Abflug so schnell wie möglich hinter mich bringen.
Also, los! Langsam glitt ich den Anlauf hinunter, dann hob ich ab. Ich hatte das Gefühl, als würde ich eine halbe Stunde in
der Luft hängen, der Boden kam und kam nicht näher. Dann – endlich. Ich landete zwar breitbeinig, nicht im geforderten Telemark-Aufsprung,
doch nichts Schlimmes war passiert. Um die |81| zwanzig Meter hatte ich mit meinem Sprung zuwege gebracht. Nicht gerade viel, aber ich war unten.
«Eine Drei oder eine Vier könnte ich dafür geben», lautete das Urteil meines Skilehrers.
«Ja, was denn jetzt? Eine Drei oder eine Vier?»
«Na ja, eigentlich eine Drei.»
Sofort öffnete ich meinen Anorak und zog zu aller Überraschung mein Studienbuch hervor, das ich mir vorsorglich in die Skihose
geschoben hatte.
«Bitte sofort eintragen.»
«Willst du es nicht nochmal versuchen? Vielleicht kannst du eine Zwei herausholen.»
«Nee, nee, eine Drei reicht.» Alles war mir lieber, als noch einmal auf die Schanze zu müssen.
Am schlimmsten aber waren Fächer wie «Marxismus-Leninismus», «Planung und Leitung der Sozialistischen Körperkultur» oder «Historische
und theoretische Grundlagen der Körperkultur». Und weil sie als Hauptfächer gewertet wurden, konnte man auch nicht einfach
fehlen. Ich fand den Unterricht in diesen Fächern sehr ermüdend (trotzdem schloss ich am Ende in allen mit einer Zwei ab),
doch wenn es zu öde wurde, dachte ich daran, dass ich anschließend den
kicker
lesen konnte. Als Leistungssportler besaß ich einen Ausweis, der mir Zugang zu einem gesonderten Lesesaal mit westlicher Sportliteratur
verschaffte. Normale Sportstudenten bekamen ihn nicht.
Die Kombination von Leistungssport und Studium hatte aber noch einen Vorteil, der mir weitaus wichtiger war – sie bewahrte
mich davor, zur
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