Meine zwei Halbzeiten
Nationalen Volksarmee (NVA) eingezogen zu werden. Selbst die vormilitärische Ausbildung, die vielfach in den
Sommersemesterferien für einige Wochen abgehalten wurde, konnte ich dadurch umgehen. Mir kam das sehr entgegen, weil ich nicht
einmal auf dem Rummelplatz ein Gewehr in die Hand nehmen wollte. Helmut Berger, der Bruder meines Vaters, war |82| als Kriegsgefangener in einem sowjetischen Bergwerk gestorben. Ich war dabei, als man meiner Großmutter und meinen Eltern
die Nachricht übermittelte. Bis heute habe ich diesen Tag nicht vergessen. Seitdem wurde in unserer Familie Krieg noch mehr
abgelehnt als ohnehin schon, und ich hatte diese Einstellung übernommen. Außerdem dachte ich, wenn du einmal bei der Volksarmee
bist, bist du immer dabei. Im Grunde gelang es mir also ein weiteres Mal, mich um einen Einsatz zu drücken.
Statt für die NVA interessierte ich mich vielmehr für Harriet Blank, eine gebürtige Chemnitzerin. Sie studierte ebenfalls
an der Sporthochschule. Eine Frau, die mich faszinierte. In Leipzig war sie eine erfolgreiche Schwimmerin, mit einer tollen
Figur, überhaupt kein Muskelpaket. Wenn man ihr begegnete, wäre man nie auf die Idee gekommen, dass sie an den Olympischen
Spielen 1964 in Japan teilgenommen hatte. Es war übrigens das letzte Mal, dass eine deutsch-deutsche Mannschaft an den Start
ging. Jedes der beiden Länder wollte so viele Athleten wie möglich aufstellen, um zu zeigen, wer die stärkere Sportmacht war.
Dieser interne Wettkampf führte wahrscheinlich dazu, dass am Ende weniger Medaillen geholt wurden. Denn in den meisten Sportarten
gab es deutsch-deutsche Ausscheidungswettkämpfe, wo die Athleten viel Kraft ließen. Ein Erfolg hier war der DDR sogar wichtiger
als einer bei den Olympischen Spielen.
Von Harriet erfuhr ich, wie frühzeitig die Deutsche Demokratische Republik ihre zukünftigen Sporttalente sichtete. Mit vier,
fünf Jahren wurden Kinder aufgrund ihres Körperbaus und mithilfe von anthropometrischen Messungen einer Disziplin zugeordnet.
So bestimmte man beispielsweise Mädchen und Jungen zur Schwimmerin oder zum Schwimmer, obwohl viele diese Kinder noch nie
im Wasser gewesen waren. Genauso ging man beim Eiskunstlauf und beim Turnen vor. Dies war nur in einer Diktatur möglich, in
jedem anderen Staat hätten sich die Eltern dagegen gewehrt.
|83| Kurz nachdem Harriet und ich uns kennengelernt hatten, heirateten wir im September 1968. Sicherlich wäre ich kaum mit dreiundzwanzig Jahren aufs Standesamt gegangen, wenn wir beide nicht noch bei unseren Eltern
gewohnt hätten. Aber wir wollten auf diese Weise ein besseres Leben führen – was auch hieß, eine geräumige Wohnung zugewiesen
zu bekommen. Wäre ich 1968 als Student aufs Wohnungsamt gegangen, um nach einer Einraumwohnung für mich zu fragen, hätte man
mich nur ausgelacht.
Die Ehe war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Nicht weil wir uns ständig in den Haaren hatten, sondern weil wir uns
niemals so schnell und so früh das Jawort hätten geben dürfen. Mit Sicherheit war ich zu dieser Zeit kein Mensch, der sich
hätte binden sollen. Viel zu sehr liebte ich mein ungebundenes Leben und die aufregenden Frauen, denen ich immer wieder begegnete,
meine Freiheit mit all den angenehmen Begleiterscheinungen. Und auch Harriet hatte ihre eigenen Zukunftsvorstellungen. Sie
wollte wie ich Karriere machen und sich frei fühlen. Mit anderen Worten: Nie führten wir das, was man damals unter einer «normalen»
Ehe verstand. Immer war der eine oder der andere unterwegs, und leicht war es, in irgendeinem Trainingslager einer Versuchung
zu erliegen.
Unsere Rechnung mit einer eigenen Wohnung ging immerhin auf. Wir erhielten eine Neubauwohnung, auf die man normalerweise Jahre
hätte warten müssen, und sogar eine mit zwei Zimmern, obwohl diese Größe nur einer Familie mit einem Kind zustand. Aber durch
unseren Leistungssport gehörten wir zu den dreitausend anderen Privilegierten, die im damals größten Plattenbau-Wohnblock
der DDR in der Bruno-Plache-Straße 2 eine Bleibe fanden, nicht weit von dem gleichnamigen Fußballstadion von Lok Leipzig und
dem Völkerschlachtdenkmal entfernt. Als im September 1970 unser Sohn Ron zur Welt kam, konnten wir innerhalb des Blocks sogar
in eine Dreiraumwohnung umziehen. Als ich Rons Geburt beim Standesamt meldete, gab es Probleme. |84| Der Beamte ging die Liste der zulässigen Vornamen durch und schüttelte dann den
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