Meine zwei Halbzeiten
will, um seine Karriere zu schützen.
Im Oktober 1976 begleitete ich die U18 zu einem Spiel nach Schweden. Als wir auf der Rückreise mit dem Zug an der Fähre ankamen,
die uns von Trelleborg nach Sassnitz bringen sollte, überlegte ich, wie es wäre, in Skandinavien zu bleiben. Es war das erste
Mal, dass ich einen solchen Gedanken hatte. Die Straßen und die hübsch gestrichenen Häuser, alles war in Schweden sauber und
hell, die Menschen gaben sich sehr frei, Musik wurde nicht zensiert.
Doch ich kehrte wieder zurück in die DDR. In meinem Innern war ich noch nicht überzeugt, diesen Schritt wirklich gehen zu
wollen. Die Entscheidung, sich in Trelleborg abzusetzen, wäre zu spontan gewesen. Sosehr ich Egoist war, moralische Bedenken
wogen schwerer: Ich war Trainer und hatte Verantwortung für eine junge Mannschaft übernommen, ich besaß Eltern, Freunde, eine
Frau, war Vater eines Kindes. Eine Flucht wollte und konnte ich nur wagen, wenn ich mich zumindest in einer Hinsicht ungebunden
fühlte – wenn ich geschieden war. Ein weiterer Grund, die Trennung endlich zu vollziehen.
«Ich möchte die Scheidung», sagte ich eines Abends zu meiner Frau. Es war November und einer jener seltenen Abende, die wir
gemeinsam in unserer Wohnung verbrachten. «Das ist scheinheilig, wie wir zusammenleben», fuhr ich fort. «Das hat mit einer
Ehe nichts zu tun.»
|103| Harriet schaute mich überrascht an, denn sie wusste, dass ich bei einer offiziellen Trennung nur Nachteile haben würde. Meine
Karriere stünde infrage, auch war nicht sicher, was aus unserer Dreiraumwohnung werden würde.
«Hast du dir das auch wirklich überlegt?», fragte sie.
Ich nickte. Nach neun Jahren Ehe wollte ich wieder frei sein und war bereit, dafür alle möglichen Risiken in Kauf zu nehmen.
Da wusste ich noch nicht, wie gravierend sich die Trennung auf mein weiteres Leben auswirken würde. Wahrscheinlich blieb ich
nur deshalb so seltsam konsequent bei meiner einmal gefassten Meinung und forcierte die weiteren Schritte geradezu.
Alles in allem musste ich in so vielen Bereichen Zugeständnisse machen, um meine Ehefassade aufrechtzuerhalten, dass ich dazu
um keinen Preis mehr bereit war. Meine inneren Widerstände waren zu groß, ich sehnte mich nach einem Befreiungsschlag. Vielleicht
trug auch mein unseliger Parteieintritt zu dieser Grundstimmung bei: Zwangsmechanismen wurden mir generell mehr und mehr zuwider.
Den Kopf darf man verlieren, sagte ich mir, das Gesicht aber nicht.
Es kam schließlich der 14. Dezember 1976, jener Tag, der mein Leben entscheidend veränderte. In einem Trainingslager in der Nähe von Leipzig, genauer
gesagt in der Sportschule Abtnaundorf, bereitete ich die Jugendauswahl für ein wichtiges Länderspiel gegen die BRD vor. Die
Begegnung sollte zwei Tage später, am 16. Dezember, im westfälischen Hagen stattfinden. Jedes Spiel gegen den «Klassenfeind» war für die Staatsführung und den DD R-Fußball -Verband extrem wichtig, selbst wenn es sich wie in diesem Fall nur um ein Freundschaftsspiel handelte. Das zeigte sich auch
daran, dass zwei meiner Stammspieler, die eine wichtige Funktion innerhalb der Mannschaft hatten, nicht zum Reisekader zählten.
Begründet wurde es damit, dass der eine verletzt, der andere an einer Grippe erkrankt sei. Wäre man ehrlich |104| gewesen, hätte man die wahren Gründe genannt: Bei dem einen Spieler lebte eine Tante im Westen, bei dem anderen der Vater,
den er allerdings nie gesehen hatte.
Am Anfang hatte ich nicht begriffen, warum man eher den sportlichen Erfolg zurückstellte, als sich der Gefahr auszusetzen,
dass ein Torschützenkönig oder Medaillenfavorit abhaute, und zwar unabhängig davon, ob für solche Befürchtungen reale Anhaltspunkte
vorhanden waren oder nicht. Nach den Maßstäben des Regimes schadete eine Republikflucht dem Ansehen des Staates mehr als eine
Niederlage oder der Verlust einer Medaille bei wichtigen internationalen Wettkämpfen, etwa den Olympischen Spielen. Aber für
diese Prioritäten entwickelte ich erst nach und nach ein Gespür.
Am Tag vor der Abreise in die Bundesrepublik wurden wir zum wiederholten Mal stundenlang politisch geschult. Man wollte uns
hinreichend klarmachen, dass wir nicht nach Schweden oder Finnland fuhren, sondern zum Klassenfeind BRD. Den Spielern wurde
immer wieder eindringlich erklärt, wie sie sich zu verhalten hatten, sollten sie von West-Fußballfunktionären
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