Meine zwei Halbzeiten
die Bar gemacht hatten, drehte ich mich noch einmal um: Das Licht war wieder
an, wahrscheinlich wurde die Skatrunde fortgesetzt.
Als das nächste Länderspiel anstand, erinnerte ich den Delinquenten vor versammelter Mannschaft an seinen «mutigen und beherzten
Auftritt» nach der letzten Begegnung, einen solchen würde ich von ihm auch an diesem Tag erwarten. Alle anderen schauten erstaunt,
nur der Angesprochene wusste, worum es ging. Er zerriss sich fast bei diesem Spiel, um mein Vertrauen zu rechtfertigen.
In der Zeit, in der ich die Juniorenauswahl trainierte, hatte ich immer wieder mit einem Sportmediziner zu tun. Er war mir
auf Anhieb unsympathisch, nach Möglichkeit ging ich ihm aus dem Weg. Einmal bekam ich mit, wie er nach dem Mittagessen bunte
Pillen an meine meist achtzehnjährigen Spieler verteilte. Von Harriet wusste ich, dass den jugendlichen Schwimmern «unterstützende
Mittel» in Tablettenform verabreicht wurden. Was es genau war, wusste man nicht. Selbst wenn man bezweifelte, dass es sich
einzig und allein um Vitamine handelte – man nahm es hin. So waren wir nun einmal erzogen worden. Aus heutiger Sicht spricht
vieles dafür, dass es sich um Doping gehandelt hat. Im Fußball habe ich dergleichen allerdings nur dieses eine Mal beobachtet;
vielleicht erzielte man bei dieser Sportart mit ihren vielfältigen Anforderungen nicht die gewünschten Effekte.
Ich hatte die Szene mit der Tablettenausgabe völlig vergessen, bis ich besagtem Mediziner einige Jahre nach der Wende wiederbegegnete.
Es war 1993, in meiner Anfangszeit beim FC Schalke 04. Wir nahmen an einem Hallenturnier in Leipzig teil, und bei diesem gab es Dopingkontrollen. Hierzu sollte der zuständige Arzt
auslosen, welcher Spieler seinen Urin abgeben musste. Als die Lose verteilt wurden, trat ebenjener Mann in unsere Kabine, |101| der einst in der Juniorenauswahl die «Vitamintabletten» verteilt hatte. Zur Mannschaft gewandt, stellte er sich vor: «Ich
bin der Doping-Beauftragte des Deutschen Fußball-Bunds.»
Mit Mühe riss ich mich zusammen und zischte nur: «Raus hier aus unserer Kabine, sonst gibt’s Ärger.» Ich konnte kaum glauben,
was ich gerade erlebt hatte. Die Kontrollen wollte ausgerechnet jemand durchführen, der möglicherweise ins Doping-System der
DDR involviert gewesen war und das westliche Gesellschaftssystem verurteilt hatte. Welch ein Hohn!
Bis auf derartige Begegnungen lief aber alles normal. Die Erfolge, die ich mit der Jugendauswahl feiern konnte, waren vorzeigbar,
und die Probezeit als Parteikandidat hatte ich bestanden, man gratulierte mir zum Parteiabzeichen und zum Parteibuch. Von
wirklichen Problemen konnte – außer in meiner Ehe – selten eine Rede sein. Einmal hatte ich vergessen, am 1. Mai, dem Kampf- und Feiertag der Werktätigen, die Fahne aus meinem Fenster in der Bruno-Plache-Straße herauszuhängen. Und
das, obwohl man beim Einzug in eine Neubauwohnung stets eine rote und eine DD R-Fahne vorfand. Ein «Staatsverbrechen», das sofort von unserer Nachbarin gemeldet wurde. Als der Verband davon erfuhr, stellte man
mich zur Rede. Ich sagte zu meiner Verteidigung: «An diesem Tag war ich im Ausland.» Man konterte nur: «Wenn du am 1. Mai nicht zu Hause bist, dann musst du die Fahne heraushängen, bevor du abreist.» Dieser Logik konnte ich nichts entgegensetzen.
Ein anderes Mal machten mir die Funktionäre wegen einer ähnlich banalen Sache Vorhaltungen: «Uns ist zu Ohren gekommen, dass
du nur 20 Pfennig für die Deutsch-Sowjetische Freundschaft gespendet hast.» Es war unglaublich, was alles weitergetragen wurde. Immer
wieder fragte man mich auch: «Was macht denn deine Ehe?»
Mir war klar, dass ich mir Gedanken über meine Beziehung zu Harriet machen musste. Wir führten eine Ehe, die keine war und
einzig durch unseren Sohn zusammengehalten wurde. Meine |102| Frau besaß sogar einen festen Freund, der zwar verheiratet war und zwei Kinder hatte, aber das hatte bei uns noch niemanden
daran gehindert, andere Partnerschaften einzugehen. Ich verhielt mich so, als wäre ich ein Single mit einer Reihe von kurzen
oder längeren Frauenbegegnungen. Mit anderen Worten: mehr Auswärtsspiele als Heimspiele. Doch so, wie Harriet und ich lebten,
konnte es nicht weitergehen. Zeitweise kam ich mir vor wie Paul in dem DEF A-Kultfilm
Die Legende von Paul und Paula
. Paul verliebt sich in Paula, bleibt aber distanziert, weil er den Schein seiner Ehe wahren
Weitere Kostenlose Bücher