Meine zwei Halbzeiten
passiert war – ich schämte mich. Der erste große Bruch zwischen dem System und mir.
Einer von den drei Funktionären sagte anschließend zu mir: «Du musst nochmal nach oben gehen.»
An dem langen Tisch saßen jetzt zwei Männer in den üblichen blassgrauen Anzügen, die man im Osten so gern trug und die fast |107| wie Uniformen wirkten. Sie baten mich, Platz zu nehmen, danach stellten sie sich namentlich vor, sagten, sie seien vom Ministerium
für Staatssicherheit, und fügten ihren Dienstgrad hinzu. Der eine war ein Major, bei dem zweiten hörte ich irgendeine Wortkombination
mit dem Wort «Oberst». Von den Sportfunktionären war niemand anwesend.
Die beiden Anzugträger redeten nicht lange um ihr Anliegen herum: «Wir wollen Sie zur Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit
gewinnen. Wie stehen Sie dazu? Wir wissen, dass Sie sich scheiden lassen wollen und das nicht gemeldet haben.» Ich war völlig
überrascht. Das war es also, worum es wirklich ging: Ich hatte meinen Vorgesetzten gegenüber kein Wort über meine Scheidungsabsichten
verloren. Aber woher wusste die Stasi überhaupt davon? Bislang hatte ich nur mit Harriet darüber geredet. Und ich konnte mir
nicht vorstellen, dass meine Frau dies einem Fremden erzählt hatte.
Zugleich begriff ich, dass die ganze Aktion heute nicht vom Fußball-Verband, sondern hauptsächlich von der Mielke-Behörde
ausgegangen war. Ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM) hatte ihr vermutlich die entsprechenden Informationen zugetragen, die
dann mit Sicherheit auch den Fußballfunktionären übermittelt wurden. Die Angelegenheit Berger war dem MfS zu gefährlich geworden,
weshalb ich vor Werner Lempert und die anderen Genossen treten musste. Doch selbst wenn sich Lempert, Döbler oder Röhrer für
mich verbürgt hätten – wovon aber angesichts der Fakten nicht auszugehen war –, sie konnten bei einem solchen «Vergehen» nichts ausrichten. Stand ein Ehemann vor einer nicht öffentlich gemachten Scheidung,
gingen die führenden Sportfunktionäre und die Staatssicherheit wohl davon aus, dass er durcheinander war, frustriert, zu einer
Kurzschlusshandlung fähig. Ein einziger Hinweis, ich sei ein Unsicherheitsfaktor, genügte, um eine Reise ins westliche Ausland
unmöglich zu machen.
Der Major zog nun ein Blatt aus seiner Aktentasche, legte es |108| auf den Tisch und meinte: «Sie könnten weiterarbeiten wie bisher, wenn Sie für uns tätig werden.» In den Worten lag keine
Drohung, jedenfalls empfand ich es so, alles lief merkwürdig sachlich und unemotional ab.
Die Situation war – was ich erst später begriff – typisch für das System: Man wollte mich in dem Augenblick für die Stasi
anwerben, als ich am Boden war, als ich nicht wusste, wie es weitergehen würde. Ich konnte mir gut vorstellen, dass man in
einer solchen Bedrängnis nachgab – einfach um die eigene Karriere nicht zu gefährden. Oder die Menschen wurden mit bestimmten
Argumenten so unter Druck gesetzt, dass sie für sich keine andere Chance sahen, als das Papier zu unterschreiben. Natürlich
gab es neben diesen beiden Typen noch die Überzeugten, die für Mielke tätig sein wollten, weil sie einfach geblendet waren.
Diese Personen hielten es für völlig selbstverständlich, als Spitzel dem Sozialismus und damit der DDR zu helfen. Sie gingen
davon aus, dass sie etwas Gutes taten. So jemand musste erst gar nicht in eine Notsituation gelangen, um andere auszuspionieren,
er ließ sie sich freiwillig als IM anheuern.
In meinem Fall hingegen ging es darum, mir wieder eine Perspektive zu bieten. Hätte ich meine Unterschrift unter das Papier
gesetzt, ich hätte weiterhin ins westliche Ausland reisen dürfen – sofern ich den vor mir sitzenden Stasi-Leuten trauen konnte.
Die beiden wussten bestimmt, wie viel mir dies bedeutete. Einen besseren Zeitpunkt hätte man sich nicht aussuchen können,
um einen neuen Mitarbeiter zu gewinnen.
Unterzeichnete ich das Formular, wusste ich, was ich als Gegenleistung zu tun hatte. Ich würde Informationen liefern müssen,
die Menschen aus meinem Freundeskreis und meinem beruflichen Umfeld denunzierten. Die Staatssicherheit war nicht daran interessiert,
dass ich ihr etwas mitteilte, was die zu observierende Person in ein positives Licht rückte. Es ging um Hinweise, mit denen
man die entsprechende Person «bearbeiten» und ihr damit Schaden zufügen konnte – wie augenblicklich mich.
|109| «Können Sie sich das
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