Meine zwei Halbzeiten
nicht mehr daran vorbeikamen, mich auch wieder zu Länderspielen im Westen zuzulassen. Kein Einsatz war mir zu viel. Nie fluchte
ich, wenn ich zum Beispiel schon wieder nach Polen oder auf einen Lehrgang musste. Mein Vorteil war: Als zukünftiger Junggeselle
konnte man mich jederzeit einsetzen, niemals wehrte ich eine Anfrage ab, sagte immer nur: «Klar, ich fahre, ich mach das schon.»
Bei jedem Spiel in einem Bruderland durfte ich ohne Wenn und Aber dabei sein. Und als im Februar 1977 eine Begegnung im Westen
auf dem Plan stand, gegen Dänemark, gab es im Vorfeld keinerlei Hinweise darauf, dass ich als Trainer nicht mit meiner Mannschaft
reisen durfte. Das irritierte mich. Was hatte es zu bedeuten? Hatte man mein Ausreiseverbot vergessen? Ich konnte mir keinen
Reim darauf machen.
Bis kurz vor der Dänemarkreise arbeitete ich im Trainingslager Kienbaum, knapp dreißig Kilometer östlich von Berlin. Von dort
sollte es zum Flughafen Schönefeld gehen. Da ich keine weiteren Instruktionen erhielt, packte ich meine Tasche. Erst als ich
damit fertig war, nahm mich einer der Delegationsbegleiter zur Seite und eröffnete mir: «Genosse, dir ist sicher klar, dass
du nicht mitfliegen darfst, das müssen wir dir nicht erklären. Stattdessen begleitet Genosse Werner Basel die Mannschaft nach
Dänemark.»
Mühsam unterdrückte ich meine Enttäuschung. Kurz darauf machte ich mich auf den Weg nach Berlin, um von dort aus mit der Reichsbahn
weiter nach Leipzig zu fahren. Zum Glück gab es im Mitropa-Speisewagen das eine oder andere Radeberger Pils, so konnte ich
meinen Ärger wenigstens teilweise hinunterspülen. Als ich auf dem Leipziger Hauptbahnhof ankam, war ich alles andere als nüchtern.
Zu Fuß ging, besser gesagt, wankte ich nach Hause, um anschließend mit dem Trabi zu meinen Eltern zu |116| fahren und ihnen alles zu erzählen. In diesem Zustand hätte ich mich keinesfalls hinters Steuer setzen dürfen, aber ich war
so aufgebracht, dass ich überzeugt davon war, alles unter Kontrolle zu haben. Zum Glück baute ich keinen Unfall.
Meine Eltern waren erschrocken, als sie mich so sahen. Nachdem ich ihnen von Kienbaum berichtet hatte, versuchten sie, mich
zu beruhigen. Meine Mutter sagte, sie könne meinen Zorn verstehen, aber ich solle aufpassen, nicht alles noch schlimmer zu
machen.
Als ich schließlich wieder bei mir zu Hause parkte, war ich einigermaßen nüchtern, aber mein Zorn noch nicht gänzlich verraucht.
Ich packte meine Skiausrüstung zusammen, eine blaue Rennhose und einen auffällig gelben Anorak, beides im Westen gekauft.
Am nächsten Morgen wollte ich nach Oberwiesenthal zum Skifahren aufbrechen. Dass ich mich abgeschoben fühlte, sollte mir nicht
den Spaß am Leben nehmen.
Nach einigen Stunden Schlaf und ungefähr zwei Stunden Autofahrt erreichte ich mein Reiseziel. Oberwiesenthal liegt im Erzgebirge,
auf 914 Meter Höhe, und ist die höchstgelegene Stadt Deutschlands. Es wurde vielfach als St. Moritz des Ostens bezeichnet, aber als ich später einmal den Ort am Corvatsch kennenlernte, kam ich nicht umhin, einzuräumen,
dass der Vergleich ein klein wenig hinkte. Nachdem ich ein paarmal die Skipiste hinuntergejagt war und mich einigermaßen abreagiert
hatte, entdeckte ich vor einer Hütte einige Freunde aus Leipzig. Ich wusste, dass sie dieses Wochenende hier verbringen wollten.
Zu ihnen gehörten meine besten Freunde Rolf Gothe, ein Ingenieur, und Volker Pechtl, der als Sportwissenschaftler arbeitete.
Beide hatten ihre Scheidung seit längerem hinter sich, meine stand zwei Monate später an, im April, das passte gut zusammen.
Sie saßen mit dem Gesicht in der Sonne, völlig entspannt. Als ich vor ihnen stand, blickten sie erstaunt auf.
«Mensch, Jörg, du bist es tatsächlich. Wir haben schon einen |117| auf der Piste beobachtet, bei dem wir dachten, das könnte der Berger sein. Der fuhr genauso wie du, trug auch deine Skikleidung.
Wir kamen aber nicht auf die Idee, anzunehmen, dass du es auch wirklich bist. Eigentlich hattest du doch gehofft, in Dänemark
sein zu können.» Rolf und Volker schauten mich noch irritierter an.
In alten Zeiten hätte ich jetzt geflucht: «Scheiß-Fußball-Verband, die haben mich nicht mitfliegen lassen, reinste Schikane.»
Oder: «Ich habe vom Staat den Kanal voll.» Stattdessen spielte ich die Dänemark-Story herunter, versuchte, fröhlich und ganz
normal zu klingen: «Daraus wurde nichts, aber dafür kann ich
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