Meine zwei Halbzeiten
etwas, was ich bis dahin nicht gemacht hatte und ich im Grunde verabscheute. Doch um mich zu schützen, schien
mir das notwendig zu sein.
|131| Wenn wir gemeinsam zu den Montagsversammlungen beim DTSB nach Berlin fuhren, beobachtete ich, dass die meisten Mitreisenden
das Parteizeichen – die sich schüttelnden Händen vor einer Flagge mit der umrahmenden Aufschrift «Sozialistische Einheitspartei
Deutschlands» – schon in der Bahn angesteckt hatten. Ich tat dies erst heimlich, wenn wir uns ungefähr hundert Meter vor dem
Eingang des Gebäudes befanden.
Um zur Storkower Straße zu gelangen, mussten wir auf dem Bahnhof Schönefeld in eine S-Bahn -Linie umsteigen. Ein Teil der Strecke lag so hoch, dass ich von der einen Fensterseite auf Straßen in West-Berlin schauen
konnte. Jedes Mal, wenn ich an diesem Abschnitt entlangfuhr, schwor ich mir, eines Tages dort unten zu stehen. Als ich schließlich
in der Bundesrepublik war, löste ich mein Versprechen ein. Bei meinem ersten Besuch in West-Berlin suchte ich genau diese
Stelle auf, natürlich zur früher gewohnten Zeit an einem Montag. Meine Aktion blieb nicht unbemerkt. Sie wurde von der Stasi
in meinen Akten als «Provokation» vermerkt, man hatte mich entdeckt.
War die Sitzung beendet, suchten wir auf der Rückfahrt nach Leipzig sofort den Speisewagen auf. Die anderen behielten ihr
«Bonbon» weiterhin am Revers des Jacketts, ich ließ es augenblicklich in meiner Hosentasche verschwinden. Im Mitropa ergab
es sich oft, dass man eine attraktive Frau ansprechen konnte – und ein Parteiabzeichen hätte bedeuten können, abzublitzen.
SED-«Bonbons» waren bei vielen nicht besonders beliebt – und ein Flirt weniger wegen eines Parteibekenntnisses, das kam für
mich nicht infrage.
Mehr und mehr hatte ich das Gefühl, mich in einem Umfeld zu bewegen, das für mich kaum noch durchschaubar war. Vorsicht schien
geboten zu sein, auch wenn ich keinen konkreten Verdacht hatte. Aber was war zum Beispiel mit einem meiner engsten Freunde,
mit Rolf Gothe? Er hatte mich 1972 kennengelernt, in meinem letzten Studienjahr. Der DHf K-Fasching stand |132| vor der Tür, berühmt-berüchtigt für die vielen Bands, die an diesem Abend auftraten, die tollen Frauen, die Isomatten und
das schummrige Licht. Normalerweise wurden Tanzveranstaltungen in der DDR eher bei hellster Wohnzimmerbeleuchtung abgehalten,
hier in der Dunkelheit ging aber die Post noch mehr ab.
Ein Freund von mir brachte Rolf zu dem Fasching mit. Groß und schlank war er, und er verstand es, sehr gut zuzuhören und das
weibliche Geschlecht mit seinen Geschichten zu fesseln. Später am Abend tauchte seine Frau auf, auch Manfred Krug, der in
Leipzig-Connewitz ein Konzert gegeben hatte. Manne Krug gab ordentlich Gas. Für mich ein starker Typ.
Seit diesem Abend war Rolf Gothe in meinem Leben. Er war kein großer Fußballfan, dafür spielten wir, wann immer wir Lust dazu
hatten, Schach und zogen häufig zusammen um die Häuser, Er lebte in einer ähnlichen Ehesituation wie ich und hatte einen Sohn
im gleichen Alter. Viele verstanden nicht, dass ich mit ihm befreundet war, meinten, er sei sehr karrierebewusst, stünde im
Verdacht, berechnend zu sein. Stimmte das? Seltsam war, so fiel mir jetzt auf, dass er stets Zeit hatte. Wenn ich ihn fragte,
ob er mit mir am nächsten Tag zum Skifahren mitkommen wolle – kein Problem. Auch schien es ihn nicht zu stören, dass meine
anderen Freunde ihm gegenüber immer auf Distanz blieben. Ach was, das bildete ich mir alles nur ein, beruhigte ich mich, als
ich anfing, darüber nachzudenken.
Dennoch: Meine Vermutung, dass ich überwacht wurde, verfestigte sich. Aber ich wollte mich nicht weiter auf ein Bauchgefühl
verlassen, ich wollte Gewissheit. Als ich an einem Dienstag Anfang März 1979 für drei Tage zu einem Länderspiel nach Rumänien
fahren sollte, überlegte ich, dies sei für die Staatssicherheit im Grunde eine optimale Gelegenheit, meine Wohnung zu durchsuchen.
Dass ich zwei Wochen später für mich überraschend nach Jugoslawien mitfahren sollte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt schon.
Als man mir das mitgeteilt hatte, worauf ich seit |133| Jahren wartete, konnte ich es kaum fassen. Einerseits hätte ich vor Freude in die Luft springen mögen, andererseits rechnete
ich aufgrund meiner vergangenen Erfahrungen damit, dass alles nur ein Test war. Vielleicht wollte man einfach überprüfen,
ob ich bei einer solchen
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