Meine zwei Halbzeiten
Stolz? Wie würde ich mit dem zu erwartenden Frust umgehen? Auf
all diese Fragen wusste ich keine Antworten. Daher lenkte ich mich ab – und genoss das Leben in vollsten Zügen.
Die nächsten Monate waren unabhängig von meinen Ausschweifungen jedoch wesentlich anstrengender als alle anderen Jahre zuvor
und danach in meinem Leben. Jeden Tag musste ich Selbstkontrolle üben, was einem Kraftakt gleichkam. Einfach sich so zu geben,
wie mir der Sinn danach stand, diese Sorglosigkeit besaß ich nicht mehr. Hätte ich mich übertrieben vorsichtig verhalten,
mich zurückgezogen, man hätte glauben können, ich wolle irgendwie ein schlechtes Gewissen verbergen. Besonders beunruhigend
war die Vorstellung, dass ich im Schlaf etwas erzählte, |129| was mich verriet. Eine Freundin brauchte in diesem Moment nur wach zu liegen.
In den beiden letzten Sommern vor meiner Flucht saß ich oft in Prerow am Strand. In den dunklen Nächten beobachtete ich, wie
die Funken vom Lagerfeuer sprühten, hörte dem Knistern des Brennholzes zu. Bewusst setzte ich mich ein wenig abseits von meinen
Freunden, die mit mir campten, um meinen Gedanken nachhängen zu können. Das erste Mal hatte ich das Meer nach der mittleren
Reife gesehen, auf jener fast verhängnisvollen Ferienreise mit meinen Eltern. In der Zwischenzeit war ich öfter an diesen
Ort gefahren, oft zusammen mit meinem Sohn, der mir von Jahr zu Jahr wichtiger wurde. Ein unglaubliches Glücksgefühl strömte
jedes Mal durch meinen Körper, wenn ich den feinen Sand spürte, die schaumgekrönten Wellen der Ostsee erblickte, den weiten
Horizont. An manchen Tagen glaubte man, die skandinavische Küste erkennen zu können. Prerow war ein Ort, an dem ich meinem
Unabhängigkeitsdrang zum Ausdruck bringen konnte.
Auch jetzt fühlte ich mich in den Dünen frei, war es aber natürlich nicht. Meine Freiheit und die meiner Freunde war eine
gespielte, wir redeten sie uns ein. Das fing damit an, dass man einen Zeltschein benötigte, um an diesem Strand campen zu
dürfen. Und den bekam man nur alle paar Jahre für einen Sommer. Deshalb sprachen wir uns im Freundeskreis so ab, dass ihn
immer einer gerade hatte. Morgens um vier Uhr standen oft NV A-Soldaten mit Maschinenpistolen vor unseren Zelten, um zu kontrollieren, ob wir auch tatsächlich die nötigen Papiere besaßen. Es konnte
ja auch sein, dass wir verbotenerweise über die Ostsee fliehen wollten.
Unsere Freiheit in Prerow war aber noch in anderer Hinsicht eingeschränkt. So war es nicht erlaubt, mit einer Luftmatratze
ins Wasser zu gehen, ebenso durfte man nicht auf der Ostsee surfen. |130| Ständig fuhren an der Küste Patrouillenboote vorbei, und es war nicht zu übersehen, wie abends der Strand abgeleuchtet wurde.
Immer wieder ließ ich im Schein des Lagerfeuers den Blick übers Meer schweifen – es war der Blick Richtung Norden. Dunkel
ahnte ich die gegenüberliegende Küste, von einer Düne aus konnte man sogar den Leuchtturm von Gedser sehen, einer Ortschaft
auf der dänischen Insel Falster. Im August 1969 war der Leipziger Spitzenschwimmer Axel Mitbauer von dem Ostseebad Boltenhagen
aus in den Westen geschwommen. Da es damals keine Neoprenanzüge gab, soll er seinen Körper mit Fett eingerieben haben, als
Schutz vor einer Unterkühlung. Nach drei Stunden konnte er sich an einer Boje in der Lübecker Bucht festhalten, von wo aus
er von einem Fischkutter aufgenommen wurde. Er hatte den günstigsten Fluchtzeitpunkt ausgemacht, als die riesigen Leuchtscheinwerfer
der Grenzposten zur Kühlung ausgeschaltet worden waren. Dieses Wagnis wäre ich wegen des Überwachungssystems und der unvorhersehbaren
Strömungsverhältnisse der Ostsee nie eingegangen. Obwohl ich selbst gut durchtrainiert war, eine Flucht unter lebensgefährlichen
Bedingungen war weiterhin keine Option für mich.
Oft fuhren wir die zwanzig Kilometer nach Ahrenshoop, im dortigen Kurhaus wurde bis in den frühen Morgen hinein getanzt. Während
der Ferienmonate traten meist verschiedene Bands auf, die die Stimmung heftig anheizten. Wenn der Hazy-Osterwald-Titel «Der
Fahrstuhl nach oben ist besetzt» gesungen wurde, tobte der Saal. Wie hieß es weiter in dem Lied: «Sie müssen warten.» Ja,
auch ich musste warten. Und das fiel mir mit meinen zweiunddreißig Jahren schwer.
In dieser merkwürdigen Wartezeit zwischen den beiden Sommern fing ich auch tatsächlich an, genauer meine Mitmenschen kritisch
zu beäugen –
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