Meine zwei Halbzeiten
Fußballer würde? Konnte er nicht bei einem Vater, der in demselben
Bereich tätig war und Republikflucht begangen hatte, große Schwierigkeiten bekommen, nicht mehr weiter gefördert werden? Wieso
dachte ich erst jetzt ernsthaft daran? Die Antwort lag auf der Hand: Ich konnte gut verdrängen. Bei meiner Entscheidung zur
Flucht ging es mir hauptsächlich darum, dass ich es mit meinen vierunddreißig Jahren |152| leid war, mich vom Kollektiv delegieren zu lassen. Ich wollte mich individuell entwickeln, mich mit eigenen Entscheidungen
profilieren – wie gesagt, ich war auch ein großer Egoist.
Als der Zug am frühen Nachmittag in den Münchner Hauptbahnhof einlief, hatte ich das Gefühl, nicht mehr länger in einem Bahnabteil
sitzen bleiben zu können. Ich stieg aus, wollte ein wenig von der Stadt sehen, in der die Olympischen Spiele 1972 stattgefunden
hatten.
Auf dem Bahnsteig schaute ich mich ständig um. Noch hatte ich nicht wirklich realisiert, im Westen zu sein, die Vergangenheit
saß mir weiterhin im Nacken. Ich ging um das Bahnhofsgelände herum und betrat einige Seitenstraßen, damit ich ein wenig das
Gefühl bekam, dass ich tatsächlich in München war. Schließlich kehrte ich zurück, um mich bei einem Informationsschalter nach
einer Verbindung Richtung Weilheim zu erkundigen. Ich wusste, dass der Ort in der Nähe des Starnberger Sees lag. «Gerd Penzel,
Weilheim, Wettersteinstraße 1», dieser Name und diese Adresse in meinem Ersatzpass hatten mir Glück gebracht – und auf einmal
stand für mich außer Frage, dass ich diesen Freund meiner Eltern aufsuchen musste. Eigentlich hätte ich mich bei meiner Ankunft
in der Bundesrepublik bei der Polizei melden sollen, so hatte man es mir in Belgrad nahegelegt. Aber das konnte ich immer
noch erledigen.
Während der Fahrt kam zum Glück kein Schaffner, der die Fahrkarten kontrollierte – aufgrund meiner Finanzlage hatte ich mich
fürs Schwarzfahren entschieden. Nach einer knappen Stunde war ich in dem oberbayerischen Städtchen angelangt. Ich fragte mehrere
Passanten nach der Wettersteinstraße, schließlich stand ich vor der Hausnummer 1. Mit klopfendem Herzen klingelte ich, es war inzwischen gegen fünf Uhr nachmittags.
Nach einer Weile wurde die Tür einen Spaltbreit von einer älteren Frau geöffnet, ich hatte den Eindruck, dass es die Haushälterin
war. Als ich mich als Sohn von Gertrud und Franz Berger vorstellte |153| und sagte, dass ich zu den Penzels wolle, erwiderte sie, dass diese erst später von der Arbeit zurückkommen würden. Im Haus
wollte sie mich nicht warten lassen, da ich mich nicht ausweisen konnte. Mein Behelfspass half mir nicht weiter, schließlich
lautete er auf den Namen eines Hausbewohners. Was tun? Ich wollte nicht sofort zurück nach München fahren, zu groß war mein
Bedürfnis, mit jemandem zu reden, der meine Familie in Leipzig kannte.
Auf der anderen Straßenseite entdeckte ich eine kleine Gastwirtschaft. Ich kramte mein letztes Geld aus der Hosentasche, es
waren noch sieben, acht Mark. Das konnte für ein Bier und eine Suppe reichen. Seit den Sandwichs am Morgen hatte ich nichts
mehr gegessen. Bevor das Essen kam, rief ich beim Deutschen Fußball-Bund an, die Telefonnummer hatte ich in der Botschaft
erhalten. Der Wirt war so freundlich und ließ mich sein Telefon unentgeltlich benutzen, nachdem ich ihm erklärt hatte, worum
es ging. Ich wurde von der Zentrale mit Hans Paßlack verbunden, dem Generalsekretär des DFB. Er hörte sich an, was ich ihm
erzählte, anschließend bat er mich, am Dienstag in Frankfurt vorbeizukommen. Da gäbe es eine Möglichkeit, mit Hermann Neuberger,
dem Präsidenten, zu reden, jetzt sei er nicht da. Danach war das Gespräch schnell beendet.
Nachdem ich mich gestärkt und die Wärme der Gaststube genossen hatte, läutete ich gegen sieben Uhr ein weiteres Mal bei den
Penzels. Eine Nachbarin, die mich wohl beobachtet hatte, öffnete ihr Fenster und fragte mich, was ich denn von ihnen wolle.
Einen Besuch abstatten, antwortete ich, ich käme nämlich aus dem Osten. Daraufhin sagte die Frau, dass sie hinunterkommen
würde, um Gustl, die Haushälterin, davon zu überzeugen, mich ins Haus zu lassen.
Das gute Zureden half tatsächlich. So führte mich die Haushälterin mit leicht misstrauischem Blick ins erste Stockwerk, wo
sich das Wohnzimmer befand. Danach stieg sie wieder hinunter ins Erdgeschoss, schaute aber alle fünf Minuten nach mir,
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