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Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
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Zug, der aus Karl-Marx-Stadt kam, hatte eine so große Verspätung, dass ich dies vom Bahnhof aus meiner Sportdelegation
     in Weißensee telefonisch mitteilte. Über eine Stunde musste ich auf dem Bahnsteig warten, bis der Zug eintraf.
    |145| Vor dem Betreten der Sportschule kam mir Horst Brunzlow mit seiner Sporttasche entgegen. Er war Jugendtrainer bei Dynamo Dresden
     und sollte mein Co-Trainer bei dem Spiel in Subotica sein.
    «Ich werde euch nicht begleiten, ich fahre nach Hause», sagte er enttäuscht.
    «Was ist passiert?»
    «Meine Frau hat Post aus dem Westen erhalten, das hat sie mir verschwiegen. Deshalb konnte ich das nicht melden.»
    Ein winziges Detail, und schon war es aus. Oder war alles nur inszeniert worden, um einen anderen Genossen bei diesem brisanten
     Spiel in Jugoslawien einzuschleusen?
    «Aber du hast diesmal Glück», rief mir Brunzlow hinterher. «Du darfst fahren, obwohl du nicht einmal verheiratet bist.»

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    |147| Zweite Halbzeit   – Gefährlicheres Leben im Westen
    |149| 11
Der Russe steht vor der Tür
    |150| Kurz nachdem wir die Grenze zu Österreich überquert hatten, fuhr der Zug in einen Bahnhof ein. Klagenfurt. Ich streckte meinen
     Kopf weit zum Fenster heraus. Ein Mann mit einem kleinen Wagen schrie laut: «Heiße Getränke! Snacks!» Noch nie hatte ich gesehen,
     dass auf einem Bahnsteig Getränke und Speisen angeboten wurden. In der Mitropa konnte man froh sein, wenn man überhaupt etwas
     erhielt. Der Westen hatte begonnen.
    «Hallo, hallo», rief ich den Verkäufer zu mir ans Fenster. «Kann ich bei Ihnen einen Pikkolo Sekt und ein gutes Bier bekommen?»
    Selbstverständlich hatte der Mann das im Angebot. Auch ein Käse-Schinken-Sandwich.
    «Zwei Gläser hätte ich auch noch gern. Und eine Packung Zigaretten. Ernte 23.» Die Marke kannte ich, weil der Vater einer
     Freundin Beziehungen zum Westen hatte und diese Sorte immer wie einen Schatz im Wohnzimmerschrank aufbewahrte. Wenn er mir
     hin und wieder eine der Westzigaretten anbot, sagte ich als typischer Schnorrer nicht nein.
    «Gläser hab ich nicht, aber ich kann Ihnen zwei Plastikbecher geben.»
    Das war auch in Ordnung. Was ich am Ende für meinen Einkauf bezahlte, ließ mich allerdings zusammenzucken. Mein Geld, das
     ich von der Botschaft erhalten hatte, war jetzt bis auf wenige Mark aufgebraucht.
    Nach einer Weile erschien der Schaffner, der mir das leere Abteil zugewiesen hatte.
    «Hallo», sagte ich, «kommen Sie doch bitte mal rein.» Der Mann schaute mich irritiert an. «Sie sind der Erste, dem ich das
     sage», fuhr ich fort. «Ich bin gerade aus der DDR geflüchtet, und nun wollte ich Sie zu einem   …»
    Er unterbrach mich. «Dass mit Ihnen was nicht stimmte, das hab ich schon gemerkt. Sie verhielten sich so unsicher.»
    Ich schenkte ihm einen Becher mit Sekt ein und bot ihm eine |151| Zigarette an. Nach all dem, was ich in den letzten beiden Tagen durchgemacht hatte, wollte ich mich jemandem mitteilen: «Und
     jetzt muss ich Sie in den Arm nehmen. Ich kann nicht anders. Ich hab’s nämlich wirklich geschafft.»
    Er zeigte sich nicht überrascht, als ich ihn fest an mich drückte. Ich musste meine Freude einfach zum Ausdruck bringen –
     dass ich dies nur bei einem Fremden tun konnte, fühlte sich dennoch ein wenig traurig an.
    Nachdem der Schaffner sich für alles bedankt hatte, verließ er das Abteil. Ich betrachtete durch das Fenster die schneebedeckten
     Berge und Wiesen Kärntens. Das war der Westen! Doch wie sollte es hier überhaupt für mich weitergehen? Sicher, ich wollte
     allen zeigen, dass man es auch ohne die Partei und das System der DDR schaffen, dass man es selbst im kapitalistischen Feindesland
     zu etwas bringen konnte. Vonseiten der Ostpresse wurde meine Flucht später so dargestellt, als sei alles geplant gewesen,
     ich sei vom DFB abgeworben worden, man habe mir eine Trainerposition bei Darmstadt 98 in Aussicht gestellt. Dabei stimmte
     das keineswegs, ich fing wieder von ganz unten an.
    In diesem Augenblick musste ich an meinen Sohn denken, an meine Eltern, überlegte, ob sie vielleicht schon verhört wurden,
     ob gerade das ablief, was im DD R-Jargon als «zielgerichtete Abschöpfung und Verunsicherung» bezeichnet wurde. Rons Augen tauchten vor mir auf, wie sie geleuchtet
     hatten, als ich ihn beim Spiel im Bruno-Plache-Stadion heimlich beobachtete. Er war genauso fußballbegeistert wie ich in seinem
     Alter. Was, wenn in einigen Jahren aus ihm einmal ein guter

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