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Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
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einer Fluchthelferorganisation in die Bundesrepublik gelangt, in einem Laster mit doppeltem Boden. Fast drei Jahre
     waren seitdem vergangen. Am Ende unserer denkwürdigen Begegnung – ich war erst den zweiten Tag in der Bundesrepublik, und
     schon traf ich einen weiteren Flüchtling – sagte er, dass nächste Woche ein Freund von ihm zu seiner Schwester nach Engelsdorf
     fahren würde. Wenn ich eine Nachricht, etwa an meine Eltern, auf einen Bierdeckel schriebe, könne er sie mitnehmen. Die Schwester
     würde sie dann zur Mühle bringen.
    Diesen Vorschlag nahm ich sofort begeistert auf. Wer weiß, was die Stasi meiner Mutter und meinem Vater in der Zwischenzeit
     über mich erzählt hatte? Auf diese Weise bekamen sie wenigstens ein Lebenszeichen von mir. Ich lieh mir von der Bedienung
     einen Stift und schrieb auf den Rand eines Bierdeckels so klein wie möglich, aber dennoch lesbar: «Liebe Eltern, mir geht
     es gut. Macht euch keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung.» Das klang banal, doch meine Eltern würden diese Worte sehr beruhigen.
    Später erfuhr ich, dass sie der Bierdeckel tatsächlich erreicht hatte. Andy lieferte ihn in der Gräfestraße ab. Nach der Öffnung
     der Mauer erzählte er, dass er sein Auto, um nicht beobachtet zu werden, weit von der Wohnung entfernt geparkt hatte und dass
     er nach vollzogener Übergabe völlig erleichtert zurück nach Engelsdorf gefahren war.

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Verhinderte Heirat im Rotlichtbezirk
    |158| Auf dem Frankfurter Hauptbahnhof dauerte es etwas, bis ich die richtige S-Bahn gefunden hatte, die mich zum DFB in die Otto-Fleck-Schneise bringen sollte. Gegründet worden war der Fußball-Verband 1900
     in Leipzig – immer wieder kam meine Heimatstadt ins Spiel   –, im Zweiten Weltkrieg wurde er aufgelöst, schließlich 1949 im Westen neu gegründet. Als ich vor der Zentrale stand, stockte
     mir der Atem. Ich kannte das Zimmer von Lempert, ich kannte das Zimmer von Ewald – und nun sah ich vor mir einen Glaspalast.
     In dem Gebäude in der Ost-Berliner Storkower Straße war Fußball eine Sektion unter vielen. Fußball, Handball, Volleyball –
     alle Ballsportarten befanden sich auf einer Etage, darunter waren die Räume für andere Sportarten. Hier, in diesem Prachtbau,
     residierten einzig die westdeutschen Fußballfunktionäre.
    Ich betrat die Eingangshalle und erblickte als Erstes die vielen ausgestellten Pokale. Hinter einem fast gläsernen Tresen
     saß eine Empfangsdame, die mich freundlich anlächelte. Das Wort «Ambiente» kannte ich damals noch nicht. Aber wäre es mir
     geläufig gewesen, bestimmt hätte ich gedacht: «Was für ein beeindruckendes Ambiente!»
    Hans Paßlack holte mich dort ab und führte mich in das Büro von Hermann Neuberger, der sich als Cheforganisator der Fußball-Weltmeisterschaft
     1974 in der Bundesrepublik besonders hervorgetan hatte. Neuberger saß hinter einem Schreibtisch, stand aber auf, als ich den
     Raum betrat. Paßlack stellte mich vor.
    «Ich weiß, wer Sie sind», bemerkte Neuberger, der das weitere Gespräch führte. Paßlack sagte nichts, sondern hörte nur zu.
     «Ihre Geschichte ist mir bekannt, zum Teil auch über Eschweiler. Falls Ihnen das neu ist: Die hiesigen Zeitungen haben bislang
     noch keine Zeile über Ihre Flucht geschrieben, auch in der
tagesschau
ist nichts berichtet worden. Das bedeutet: Keiner außer uns weiß Bescheid, dass Ihre Aktion gelungen ist.»
    In Weilheim hatte ich mich so sicher gefühlt, dass ich nicht einmal |159| am Wochenende eine Polizeistation aufsuchte, die hätte Meldung machen können. Nach den Aufregungen der letzten Tage musste
     ich erst wieder zu mir kommen, das war wichtiger als alles andere.
    «Doch konkret: Was haben Sie vor?», fuhr Neuberger fort. «Was fangen wir mit Ihnen an?»
    Zum ersten Mal verspürte ich eine gewisse Ernüchterung. Man gratulierte mir nicht zu meiner Flucht, hieß mich nicht willkommen,
     fragte nicht weiter nach, sondern betrachtete meine Anwesenheit sogar mit einer Skepsis, die ich nicht einordnen konnte.
    «Ich möchte weiter im Fußball arbeiten», antwortete ich.
    «Und in welcher Form?»
    «Im bezahlten Fußball.»
    Die beiden Männer schauten mich nicht an, sondern schienen mit eigenen Gedanken beschäftigt zu sein.
    «Ich habe sämtliche Trainerscheine gemacht», fügte ich hinzu und erzählte, dass ich in Leipzig an der Deutschen Hochschule
     für Körperkultur studiert hätte. Und weil ich meinte, die eingetretene Pause weiter überbrücken zu

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