Meine zwei Halbzeiten
um
sich |154| zu vergewissern, dass ich nichts anderes tat, als still im Sessel zu sitzen.
Nicht lange, und ich hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Die Penzels begrüßten Gustl, diese zischte aber nur: «Pscht, pscht,
da oben sitzt ein Russe!»
Ich vernahm keine Antwort, doch kurz danach eilte jemand die Stufen hoch. Auf einmal standen die Penzels im Wohnzimmer. Als
sie mich sahen, waren sie für einen Augenblick überrascht, dann brachen sie in ein schallendes Gelächter aus und umarmten
mich: «Das ist also der Russe!» Sie kannten mich noch von einem Besuch in Leipzig im Jahr zuvor. Wenig später erklärten sie
mir, die Haushälterin hätte sie schon «vorgewarnt», ein Besucher sei da, und zwar ein Russe. Jetzt verstand auch ich, was
sie gemeint hatte. Klar, für die meisten Menschen hier war der Osten gleichbedeutend mit der Sowjetunion.
Gerd und seine Frau Siegried hörten sich die Geschichte meiner Flucht und meines Passes an, soweit ich sie erzählen durfte.
Es tat gut, nicht mehr alles allein herumzutragen. Für die beiden war es selbstverständlich, dass ich bei ihnen wohnen sollte,
bis ich meinen Termin in Frankfurt hatte. Am nächsten Tag wollten ihre beiden erwachsenen Kinder zum Skilaufen in die Berge,
und sie fragten mich, ob ich nicht Lust hätte, mit den «jungen Leuten» mitzufahren. Als passionierter Läufer hatte ich keineswegs
etwas dagegen. Es fand sich für mich sogar ein passender Skianzug sowie ein Paar Stiefel und Skier. Die Schuhe fühlten sich
zwar sehr eng an, aber das war mir egal.
Nach fünf Tagen nahezu ohne Schlaf konnte ich mich später im Bett des Gästezimmers zum ersten Mal entspannen, musste nicht
Angst haben, erwischt zu werden. Die Stasi hatte mich doch nicht nach Weilheim verfolgt, oder?
Ein heftiges Klopfen am nächsten Morgen weckte mich, sonst hätte ich bestimmt noch Stunden weitergeschlafen. Draußen schien
die Frühlingssonne, der Himmel war strahlend blau. Ich |155| atmete tief durch. Bislang war ich nur in Oberwiesenthal Ski gelaufen, jetzt wollten wir zum Osterfelderkopf, einem Wintersportgebiet
in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen. Mir kam das alles irreal vor. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ich gleich
völlig unbekümmert einen Abhang hinunterfahren sollte. Bis vor kurzem hatte ich nicht gewusst, ob ich mich vielleicht in einer
Zelle in Bautzen wiederfinden würde.
Im Skigebiet angekommen, staunte ich nicht schlecht. Von der Größenordnung her war es nicht zu vergleichen mit Oberwiesenthal.
Trotz der etwas engen Schuhe lief ich sehr gut, was mir Penzels Kinder auch bestätigten, als wir uns in einer Hütte niedergelassen
hatten, um zu Mittag zu essen.
Während wir noch auf unseren Leberkäse warteten – ausgezehrt von den Anstrengungen, hatte ich ständig Hunger –, bemerkte ich, dass mich ein Mann vom Nebentisch, der zu einer größeren Gruppe gehörte, fixierte. Du bildest dir das nur
ein, sagte ich mir, du siehst überall Stasi-Mitarbeiter. Reiß dich zusammen, hier kann keiner von ihnen sein, vergiss es,
sonst leidest du bald tatsächlich unter Verfolgungswahn.
Doch ich hatte mich nicht getäuscht, der Mann hatte mich im Visier. Plötzlich stand er auf und kam an unseren Tisch. «Ich
hab da mal eine Frage», sagte er. «Bist du nicht der Jörg Berger?» Der sächsische Dialekt des Fremden war unüberhörbar.
«Nein», antwortete ich, fast barsch. Ich hoffte, den neugierigen Frager auf diese Weise loszuwerden. Doch so schnell ließ
er sich nicht abwimmeln.
«Wieso gibst du das nicht zu? Ich bin der Jochen, ein Freund von Andy.»
«Welchem Andy?», fragte ich.
«Andy Herrig. Wir haben schon zusammen gefeiert.»
Nun erinnerte ich mich ebenfalls. Die Partys in der Mühle waren oft sensationell gewesen. Zweifel stiegen in mir auf. Konnte
die Staatssicherheit so perfide sein, dass sie mir einen Freund von |156| Andy auf den Hals schickte? Und wenn, was vermochte er schon zu erreichen? In den Osten würde ich nicht zurückkehren, kein
Argument konnte mich dazu bringen. Also ließ ich alle Vorsicht fallen und gab mich zu erkennen.
Die Penzel-Geschwister hatten die Situation aufmerksam verfolgt. Als sie jetzt erleichtert feststellten, dass nichts zu befürchten
war, sagten sie, sie würden uns allein lassen, damit wir in Ruhe reden könnten.
In der nächsten Stunde tauschten Jochen und ich – immer noch ein wenig auf der Hut – unsere Fluchtgeschichten aus. Er war
mit Hilfe
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