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Meine zwei Halbzeiten

Titel: Meine zwei Halbzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Berger
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auf einmal ruhig, eine große Betroffenheit war zu spüren.
    |234| Paul Dern, der auch zum Jena-Team gehörte, antwortete schließlich: «Jörg, du weißt ja, wie das damals lief   …»
    «Wer hat das gemacht?»
    «Mein Sohn wurde dazu beauftragt. Jetzt, wo die Wende da ist, besorgen wir das richtige Foto.» Heimlich, damit es keiner hören
     konnte, flüsterte er mir noch zu: «Komm mal mit, ich hab da noch einen Kasten Radeberger.» Genau wie damals, dachte ich. Ein
     Kasten Radeberger war zu meiner Jenaer Zeit etwas ganz Besonderes gewesen, jetzt konnte man ihn aber überall kaufen. Das schien
     sich noch nicht in dem Kopf von Paul Dern festgesetzt zu haben. Er gab sein Bestes, um diese für mich sehr erhellende Episode
     zu überspielen. Deutlicher hätte man es mir nicht sagen können: In der Geschichte des DD R-Sports sollte ich ausradiert werden, als hätte es mich nie gegeben.
    Nicht weniger schockierend war ein Erlebnis ein Jahr später. Mit meiner Frau befand ich mich 1991 im Ostteil von Berlin, zusammen
     gingen wir in das Grand Hotel, um Karten für ein Pokalendspiel beim DFB abzuholen. Der Deutsche Fußball-Bund hatte zu diesem
     Zweck in der Luxusherberge ein Zimmer gemietet. Wir gingen gerade die breite Treppe zu dem besagten Raum hoch, als ich zwei
     Männer in einem DF B-Anzug die Stufen herunterkommen sah. Augenblicklich fing ich zu zittern an, ergriff die Hand meiner Frau und sagte: «Halt mich
     fest, bevor ich mich vergesse.»
    Bei diesen Männern handelte es sich um Wolfgang Riedel und Klaus Petersdorf, die beiden hatten die Delegation nach Subotica
     begleitet. In diesem Moment ging mir meine Flucht vor nun gut zwölf Jahren durch den Kopf, die damit verbundenen Ängste. Riedel
     und Petersdorf kamen auf mich zu, und als wir uns auf gleicher Höhe befanden, verlangsamten sich ihre Schritte. Sie sagten
     aber nichts weiter außer «Guten Tag». Ich selbst konnte es mir nicht verkneifen, eine Bemerkung zu machen: «Na, immer noch
     zusammen seit Jugoslawien? Schicker Anzug übrigens!»
    Hätten Riedel und Petersdorf ein Gespräch angefangen, vielleicht |235| hätte sich manches klären können. Aber dieses fast stumme Aneinandervorbeigehen war für mich unerträglich. Ähnlich muss es
     Menschen ergangen sein, die nach 1945 feststellen mussten, dass manche Leute den Systemwechsel ohne Karriereknick überstanden
     hatten. Wäre ich allein gewesen, ich wäre mit Sicherheit nicht so ruhig geblieben.
     
    Durch all diese vielen aufwühlenden Erlebnisse kam ich nicht umhin, mir eine Frage zu stellen: Wollte ich eine vollständige
     Aufklärung über meine Vergangenheit oder lieber nichts Genaues wissen? Ich war hin und her gerissen. Ein Einblick in meine
     Stasiakten konnte Aufschluss darüber geben, wer Freund und wer Feind war. Sich einer solchen Tatsache zu stellen, da bedarf
     es aber einer gewissen inneren Stabilität. Ich hatte das Gefühl, dass ich bei Akteneinsicht mit großer Wahrscheinlichkeit
     einige Überraschungen erleben würde.
    Schließlich waren zwei Dinge ausschlaggebend, dass ich mich auf den Weg in die Stasi-Unterlagen-Behörde machte. Zum einen
     war ich zum 50.   Geburtstag meines Freundes Volker Pechtl eingeladen. Erst freute ich mich darüber, doch dann hatte ich nicht den Mut, dorthin
     zu fahren. Der Grund: Ich wusste nicht, wem von den Menschen, die ich dort antreffen würde, ich vertrauen konnte und wem nicht.
     Diesen Zustand musste ich auf Dauer ändern. Zum anderen forcierte Dieter Kürten das Unterfangen Akteneinsicht. Sein Argument
     klang plausibel. Es sei einfach zu viel in meinem Leben passiert, sowohl in meiner ersten wie auch in meiner zweiten Halbzeit,
     ich müsste genauer Bescheid wissen. Sollte ich mich zu diesem Schritt entschließen, ein Filmteam vom ZDF könne mich dabei
     begleiten, den Beitrag würde er anschließend im
Sportstudio
senden. Ich war einverstanden.
    Mit Hilfe der Bundesregierung, wiederum durch die Unterstützung von Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick, konnte
     ich mein Vorhaben rasch in die Tat umsetzen. Zusammen |236| mit Chris fuhr ich im April 1993 nach Berlin. Wir wohnten im Hotel Esplanade und wurden dort, wie verabredet, in einem Taxi
     von einem ZD F-Team abgeholt. Ich spürte Neugierde, Beklemmung, wusste, dass dies alles schlimmer sein würde als der Gang in ein Stadion zu einem
     Neunzig-Minuten-Spiel, bei dem es um den Abstieg oder den Klassenerhalt ging. Über die Stalinallee ging es nach Lichtenberg
     zur

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